Seoul und Tokio auf Annäherungskurs
13. Juni 2022Als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine werden Japan und Südkorea Ende Juni in Madrid erstmals an einem NATO-Gipfel teilnehmen. Diese historische Premiere ermöglicht auch die erste Begegnung auf höchster Ebene zwischen Tokio and Seoul seit über zweieinhalb Jahren. Hinter den Kulissen wird über ein bilaterales Treffen zwischen Japans Premierminister Fumio Kishida und Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol und eine mögliche Dreierrunde mit US-Präsident Joe Biden verhandelt.
Zur Vorbereitung will Südkoreas Außenminister Park Jin für einige Tage nach Japan reisen. Das direkte Gespräch von Kishida und Yoon soll einen Neustart der Beziehungen ermöglichen, die nach einem heftigen Streit über die gemeinsame Geschichte auf den tiefsten Stand seit Jahrzehnten gesunken sind.
Die Chance auf einen Neuanfang ergibt sich durch den Wechsel der führenden Politiker. Kishida regiert Japan seit Oktober, Yoon übernahm sein Amt Anfang Mai. Beide zeigten ihre Bereitschaft zur Annäherung. Kishida bezeichnete den Wechsel von einem liberalen zu einem konservativen Präsidenten in Südkorea als eine "Jetzt-oder-nie"-Chance.
Yoon hatte schon im Wahlkampf für ein "neues Nachdenken" über die Beziehungen zwischen Seoul und Tokio plädiert. Nach seinem Wahlsieg im März telefonierte er mit Kishida, schickte eine Delegation nach Japan und ernannte den Japan-Kenner Yun Duk Min zum südkoreanischen Botschafter in Tokio. Der japanische Außenminister Yoshimasa Hayashi nahm an der Amtseinführung von Yoon in Seoul teil und übergab ihm einen persönlichen Brief von Kishida.
Geostrategische Neuausrichtung
Diese Bemühungen um ein besseres Klima in den bilateralen Beziehungen hängen mit geopolitischen Entwicklungen zusammen. Der Schulterschluss von China mit Russland in Bezug auf den Ukraine-Krieg und die aggressive Atom- und Raketenrüstung Nordkoreas bedeuten eine neue Qualität der Bedrohung für die zwei Demokratien und erfordern eine stärkere Koordinierung ihrer Außenpolitik. "Wenn Japan es mit seiner geostrategischen Neuausrichtung im indopazifischen Raum ernst meint, um dort den Einfluss Chinas einzudämmen, dann wird man um eine engere außenpolitische Zusammenarbeit mit Seoul nicht herumkommen", meint der deutsche Sicherheitsexperte Sebastian Maslow von der Frauenuniversität Sendai.
Auch in Südkorea hat die russische Invasion der Ukraine ein Umdenken befördert. "Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Seoul und Tokio stand der Abstimmung und Zusammenarbeit im Wege, die angesichts zunehmender Risiken und Gefahren für die regelbasierte internationale Ordnung dringend erforderlich sind", sagt Thomas Yoshimura, Repräsentant der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Seoul. "Der neuen Regierung unter Yoon scheint dies deutlich bewusster und wichtiger als seinem Vorgänger Moon Jae In zu sein."
Dazu kommt: Die USA als Schutzmacht von Japan und Südkorea wünschen sich mehr Geschlossenheit der beiden ostasiatischen Verbündeten gegenüber China. "Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Japan und Südkorea erscheint daher zunächst vor allem im trilateralen oder regionalen Rahmen möglich", betont Henning Effner, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Südkorea.
Er hält Fortschritte auf Basis gemeinsamer Interessen durchaus für möglich, etwa beim Aufbau von resilienten Lieferketten oder bei der gemeinsamen Entwicklung neuer Technologien im Rahmen des neuen Handelsvertrages "Indo-Pacific Economic Framework" (IPEF). Das erste Treffen der Verteidigungsminister aus den USA, Japan, Südkorea seit Ende 2019 in Singapur am vergangenen Wochenende mit der Ankündigung der Wiederaufnahme gemeinsamer Militärübungen bestätigt diese Einschätzung des deutschen Südkorea-Experten.
Hürden vor besseren Beziehungen
Trotz viel guten Willens wird sich die Annäherung der benachbarten Demokratien jedoch nicht einfach gestalten. So reagierte Japan Ende Mai mit reflexartiger Kritik auf ein südkoreanisches Schiff nahe der Liancourt-Felsengruppe im Japanischen Meer, die beide Länder für sich reklamieren. Zwar zeigen konservative Regierungen in Südkorea traditionell mehr Flexibilität in ihrer Japan-Diplomatie, man trenne "sicherheitspolitische und ökonomische Interessen von Fragen zum Umgang mit der gemeinsamen historischen Vergangenheit", erläutert Yoshimura von der KAS.
Aber der eigentliche Anlass für den bilateralen Streit lässt sich nicht leicht beseitigen. Denn das Oberste Gericht Südkoreas hatte japanische Unternehmen dazu verpflichtet, ehemalige südkoreanische Zwangsarbeiter zu entschädigen. "Daran kann Präsident Yoon nichts ändern, ohne das Prinzip der Gewaltenteilung zu verletzen", meint Henning Effner von der FES. Nach seiner Ansicht dürfte es für Yoon sehr schwierig werden, eine Lösung zu finden, die sowohl Japan, die südkoreanischen Gerichte als auch die Kläger zufrieden stellt.
Auf japanischer Seite hat Regierungschef Kishida wiederum die Oberhauswahl am 10. Juli fest im Blick. "Kishida und seine Liberaldemokratische Partei werden zunächst keine großen außenpolitischen Weichenstellungen vornehmen, so dass kurzfristig keine rasche Annäherung zu erwarten ist", meint Japan-Kenner Maslow und verweist auf die öffentliche Meinung in Japan.
Die skeptische Haltung vieler Wähler als Folge der belasteten Beziehungen zeigte sich im vergangenen Jahr in einer Umfrage der Organisation Genron. Darin gestanden 49 Prozent der befragten Japaner, sie hätten einen negativen Eindruck von Südkorea. Daher dürfte Kishida die japanischen Exportbeschränkungen für mehrere Rohstoffe für die Halbleiterherstellung, mit denen man Südkorea für das Zwangsarbeiterurteil bestrafen wollte, nicht ohne sichtbare Gegenleistung aufheben.