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Ostbeauftragter: "Stille Mitte" in Deutschland stärken

25. September 2024

Laut Bundesregierung brummt die Wirtschaft in den ostdeutschen Bundesländern. Aber viele Ostdeutsche sind unzufrieden mit der Politik. Wählen sie deshalb radikaler als die Westdeutschen?

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Deutschland Berlin 2024 | Ostbeauftragter Carsten Schneider präsentiert Bericht zur Lage in Ostdeutschland - er blickt in seine hochgehaltene Brille
Durchblick: Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung, weiß wie Menschen von Mecklenburg bis Sachsen tickenBild: Juliane Sonntag/photothek.de/picture alliance

Warum wählen gerade in Ostdeutschland so viele Menschen die teilweise rechtsextreme AfD und die neue linkspopulistische Partei BSW? Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg errang die Alternative für Deutschland (AfD) 29 bis 33 Prozent und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) 12 bis 14 Prozent der Stimmen.

Antworten auf diese Frage könnte der Jahresbericht des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland geben, den Carsten Schneider heute in Berlin vorgelegt hat. Zum zweiten Mal seit 2022 hat Schneider, der selbst aus dem ostdeutschen Bundesland Thüringen stammt, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zusammen mit zahlreichen prominenten Gastautoren unter die Lupe genommen.

Sein Fazit: Deutschland ist "frei, vereint und unvollkommen". Das Land habe sich seit 1990 stark verändert, auch der Westen, so Carsten Schneider. "Die Demokratie an sich wird in Ost und West als Hauptgesellschaftsmodell favorisiert, aber es gibt Unzufriedenheit mit der Politik und der Umsetzung."

Deutschland | AfD-Logo mit Deutschlandflagge
Punktet nicht nur, aber auch im Osten: Die AfDBild: Hannes P Albert/dpa/picture alliance

Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall existierten wirtschaftliche Unterschiede zu den alten Bundesländern, aber die Wachstumsdynamik insgesamt sei positiv. Die meisten Menschen im Osten schätzten ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut ein, fühlten sich aber von der Politik nicht richtig verstanden und trauten den demokratischen Institutionen weniger als die Deutschen im Westen.

"Angst vor Veränderung"

Das beobachtet in Lübben, einer Kleinstadt in Brandenburg, auch der örtliche Pfarrer Martin Liedtke. Die Stimmung in seiner Gemeinde beschreibt er so: "Was ich wahrnehme ist, dass die Menschen Angst vor Veränderung haben, und dass man empfänglich ist für Positionen oder für Parteien, die einem versprechen, es könnte einfach so weitergehen." Pfarrer Liedtke sagt im Gespräch mit der DW, bei der Landtagswahl vor fünf Jahren sei es noch cool gewesen, die Grünen für Klimaschutz zu wählen. Jetzt drehe sich alles um Migration. "Und das ändert doch irgendwie einiges", betont der evangelische Pfarrer der Paul-Gerhardt-Gemeinde wenige Tage nach der jüngsten Wahl.

"Die Einheit ist vollendet, auch wenn sie nicht vollkommen ist"

Der Ostbeauftragte Carsten Schneider zeigt sich über die politische Entwicklung in Thüringen, Sachsen und Brandenburg "erschreckt, ernüchtert und alarmiert". In seinem Bericht räumt er ein, dass es in den fünf ostdeutschen Ländern immer noch niedrigere Löhne gibt als in den westlichen. Ostdeutsche seien in Führungseliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Justiz unterrepräsentiert. Es werde aber massiv investiert. Die Arbeitslosigkeit sei niedrig. Infrastruktur und öffentlicher Service seien zum Teil besser entwickelt als im Westen.

"Kollektive Unzufriedenheit"

Der Chef des Arbeitgeber-nahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, schreibt in dem Jahresbericht, Ostdeutschland habe sei der Deutschen Einheit 1990 eine "eindrückliche Entwicklung" durchlaufen. "Die kollektive Unzufriedenheit, die sich an der Wahlurne entsprechend niederschlägt, passt mit den ökonomischen Erfolgen auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammen. Die aktuelle Unsicherheit und Besorgnis der Menschen in Regionen, die von der Transformation betroffen sind, tragen bundesweit zur Unterstützung der AfD bei", so der Wirtschaftsexperte. "Besonders stark ist dieses Phänomen in den Transformationsregionen Ostdeutschlands ausgeprägt."

"Wir-Gefühl" ist schwach

Auch der Ostbeauftragte Carsten Schneider weist darauf hin, dass der Trend zu rechten Populisten nicht auf Ostdeutschland beschränkt sei. Auch in Bayern und Hessen hatte die AfD bei Landtagswahlen stark abgeschnitten. Im Grunde, so Schneider, gebe es Ostdeutschland als einheitlichen Block gar nicht mehr. Die Entwicklungen seien regional sehr unterschiedlich. Wenn man auf die Bundesrepublik mit ihren 16 Ländern insgesamt schaut, sind Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg derzeit die Bundesländer mit dem höchsten Wirtschaftswachstum.

Der Jahresbericht zeigt, dass die Menschen in Ostdeutschland die Verwirklichung ihrer bürgerlichen Freiheitsrechte skeptischer sehen als die Menschen im Westen. Zwischen Ostsee und sächsischer Schweiz glauben zum Beispiel mehr Menschen, dass die Meinungs- und Pressefreiheit nicht voll verwirklicht sei, als Menschen zwischen Nordsee und Alpen. Ein gesamtdeutsches "Wir-Gefühl" hat sich laut dem Jahresbericht noch nicht eingestellt. Dieses Gefühl des Zusammenhalts sei in Ostdeutschland schwächer entwickelt als im Westen.

AfD in Ostdeutschland - warum tickt der Osten anders?

"Es hat sich im Osten eine soziale Affektlage des Protests und der Empörung, des Gekränktseins und des Unmuts, der Erniedrigung und des Aufbegehrens herausgebildet, die sich allen Versuchen von Dialog, Verständigung und Aufklärung verweigert", meinte der Religionssoziologe Detlef Pollack in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bereits im August. Es sei sehr schwer für die Parteien der Mitte, die Haltungen der Ostdeutschen zu beeinflussen. Weder das Ignorieren der extremen Parteien noch das Gegenteil, das Übernehmen ihrer Themen, habe bislang Erfolg gehabt, so der im westfälischen Münster im Westen Deutschlands forschende Soziologe.

"Problem mit der Demokratie"

Ein eher drastisches Urteil fällte der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bereits vor dem Erscheinen des jüngsten Ostdeutschland-Reports. Er beschäftigt sich mit der Diktatur in der DDR und dem Vereinigungsprozess. "Ich gehe davon aus, dass zwei Drittel der Ostdeutschen ein Problem mit Demokratie und Freiheit haben", sagte der Historiker in mehreren Interviews und löst damit eine Debatte unter ostdeutschen Intellektuellen und Politikern aus.

Kowalczuk meint, die Menschen im Osten fremdelten nicht mit den Begriffen Freiheit und Demokratie, sondern mit den Konsequenzen. "Das sehen wir an der niedrigen Beteiligung an demokratischen Aushandlungsprozessen. Viele Menschen im Osten haben bis heute nicht begriffen, dass wir in einer Kompromissgesellschaft leben, nicht in einer Konsensgesellschaft."

Kurz bevor der Bericht seines Ostbeauftragten erschien, veröffentlichte Bundeskanzler Olaf Scholz eine eher versöhnliche Videobotschaft. Nach den Landtagswahlen "scheine das Land gespalten". Dem wolle er widersprechen. Die Deutschen eine mehr als sie spalte. Bei vernünftiger Migrationspolitik, beim Klimaschutz und der Unterstützung der Ukraine gebe es eine breite Mehrheit, meint der Kanzler. "Oft hört man nur die Extreme. Aber es kommt nicht darauf an, wer am lautesten schreit. Die Mehrheit in der Mitte ist viel, viel größer. Die Vernünftigen, die Anständigen sind viel, viel mehr."

Der Ostbeauftragte des Kanzlers ruft - auch seinen Chef - dazu auf, diese "stille Mitte der Gesellschaft" nun auch zu stärken. Menschen, Vereine, Ehrenamtliche, die sich vor Ort darum kümmern, dass es läuft, brauchten Unterstützung.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union