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Deutschland lebt klimatechnisch auf Pump

Anne-Sophie Brändlin
4. Mai 2022

Deutschland hat 2022 schon nach rund vier Monaten alle ihm zustehenden Ressourcen-Vorräte verbraucht. Würden alle Menschen so leben wie in der Bunderepublik, bräuchte es drei Erden. Was muss sich ändern?

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 Das Kohlekraftwerk Niederaußem und umliegende Stromleitungen zeichnen sich gegen die untergehende Sonne ab
Bild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Es ist gerade mal Anfang Mai, doch in Deutschland ist schon "Overshoot Day", der Überlastungstag der Ressourcen. Anders gesagt: Deutschland lebt jetzt klimatechnisch auf Pump. Pro Einwohner hat das Land bereits heute so viele Ressourcen verbraucht, wie der Planet in einem Jahr ausgleichen kann. 

Wenn die ganze Welt so leben würden, wie die Menschen in Deutschland, bräuchten wir drei Planeten, um alle zu versorgen. 

"Das sollte ein Alarmsignal sein um uns an den Ernst der Lage erinnern", so Lara Louisa Siever, Referentin für Ressourcengerechtigkeit beim deutschen Entwicklungsnetzwerk INKOTA. "Es ist ein Weckruf an uns alle, die Bürgerinnen und Bürger, aber auch an die Politik und die Industrie, dass es so nicht weitergehen kann."  

Zur Berechnung der Overshoot Days verwendet die internationale Forschungsgruppe Global Footprint Network Indikatoren wie den nationalen Konsum, wie effizient Produkte hergestellt werden, die Bevölkerungsgröße und inwieweit die Natur die Ressourcen ausgleichen kann.  

Der frühe Überlastungstag in Deutschland sei auf die intensive Ressourcennutzung in Bereichen wie der Landwirtschaft und der ineffizienten Energienutzung im Gebäudesektor zurückzuführen, sagt Stefan Küper, Pressesprecher der Nichtregierungsorganisation Germanwatch.

"Das führt dazu, dass Deutschland auf Pump lebt und dem Planeten viel mehr entzieht, als wir eigentlich sollten", so Küper. 

Fortschritt zu langsam

Es ist nicht das erste Mal, dass Deutschland Ressourcen so schnell erschöpft hat. Bereits in den vergangenen Jahren haben wir den Tag der Erdüberlastung hierzulande etwa um das selbe Datum Anfang Mai erreicht.  

"Und das ist das Traurigste daran. Wir sehen nicht genug Bewegung in Deutschland. Wir machen eindeutig keine wirklichen, messbaren Fortschritte, weder bei der Reduzierung des Ressourcenverbrauchs noch bei der Verringerung von Treibhausgasen", so Küper. Das sei ein falsches Signal an andere Länder, die auf Deutschland in Sachen Emissionsvermeidung schauen könnten.  

Infografik CO2 Emissionen in Deutschland bis 2045

"Sie sehen, dass Deutschland bei der Erreichung seiner Klimaziele nicht wirklich Fortschritte macht. Also werden sie denken, dass das Thema auch für sie keine Priorität hat."  

Vor diesem Hintergrund müsse Deutschland "große, messbare Schritte unternehmen, und zeigen, dass es sich nicht nur Ziele gesetzt hat, sondern auch etwas tut, um sie zu erreichen". 

Sumatra Insel Waldbrand Feuerwehrmänner halten einen Wasserschlauch in die Flammen
Länder wie Indonesien leiden stark unter der Klimakrise, obwohl sie weniger CO2 ausstoßen als Länder wie DeutschlandBild: Aditya Sutanta/ABACA/picture alliance

Länder mit hohem Einkommen leben auf Kosten der anderen 

Auch wenn Deutschland seinen Overshoot Day so früh im Jahr erreicht, es ist keineswegs das erste Land, das die zweifelhafte Ziellinie 2022 überschreitet. Andere einkommensstarke Staaten wie Katar, Luxemburg, Kanada, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Vereinigten Staaten haben das sogar noch früher geschafft.  

Eine Tatsache, die laut Siever unterstreicht, in welchem Umfang die Industrieländer zulasten von einkommensschwächeren Ländern wie Jamaika, Ecuador, Indonesien, Kuba und Irak leben. Diese verbrauchen viel weniger Ressourcen und werden ihre jeweiligen Überlastungstage erst Ende des Jahres erreichen. 

Infografik Erdüberlastungstag nach Ländern. Katar hat den Tag schon am 11.1.2022 erreicht, Jamaika erst am 20.12.

"Deutschland ist der fünftgrößte Rohstoffverbraucher der Welt und importiert 99 Prozent der Mineralien und Metalle aus Ländern des globalen Südens", sagte Siever. "Diese Länder verbrauchen nicht die gleiche Menge an Rohstoffen, sind tragen aber die Kosten: Verletzungen von Menschenrechten und die Folgen der Umweltzerstörung." 

Overshoot Days erst seit wenigen Jahrzehnten 

Noch vor einem halben Jahrhundert war die biologische Leistungsfähigkeit der Erde mehr als ausreichend, um den jährlichen Bedarf der Menschheit an Ressourcen zu decken. Doch der "Earth Overshoot Day", der Tag, ab dem die gesamte Menschheit dem Planeten de facto mehr entnimmt als pro Jahr nachwachsen kann, schleicht sich inzwischen immer früher in den Kalender.  

Für dieses Jahr wurde das Datum für den Erdüberlastungstag noch nicht bekannt gegeben. 2020 fiel er auf den 22. August. In den Jahren 1970 lag er am 30.Dezember, 1990 war es der 10. Oktober. Im Jahr 2010 war der Erdüberlastungstag bereits auf den 6. August vorgerückt

"Es beunruhigt mich, dass wir unsere Ressourcen seit Jahrzehnten überstrapazieren, und dass wir global gesehen eine zunehmende Überlastung feststellen", so Küper. "Das ist eine Entwicklung, die wir sofort stoppen müssen."

Was muss sich ändern? 

Hauptverantwortlich dafür, dass das natürliche Ressourcenbudgets des Planeten regelmäßig überschritten wird, sind die CO2-Emissionen, die derzeit 60 Prozent des ökologischen Fußabdrucks der Menschheit ausmachen. Wenn wir nur die Hälfte davon ausstoßen würden, würde sich der Earth Overshoot Day um drei Monate nach hinten verschieben. 

Die Umstellung auf erneuerbare Energien ist eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Emissionsreduzierung. Siever weist allerdings darauf hin, dass wir uns auch über die Nachhaltigkeit der Lieferketten und Rohstoffe Gedanken machen müssten. 

"Alle fordern einen Übergang zu erneuerbaren Energien. Dafür brauchen wir aber Mineralien und Metalle wie Kobalt, Lithium und Nickel. Wir vergessen oft, dass die Verarbeitung dieser Mineralien und Metalle mit elf Prozent zu den weltweiten CO2-Emissionen beiträgt."

Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft setzt sie sich für die radikale Senkung unseres Rohstoffverbrauchs ein. Die Tatsache, dass die Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet hat, den Rohstoffverbrauch in Zukunft zu senken, ermutigt sie.  

Nachhaltige Zukunft gestalten 

Es gibt bereits Menschen, die schon etwas unternehmen, um den Overshoot Day in Zukunft nach hinten zu verschieben, etwa durch Bürgerinitiativen, Maßnahmen auf Gemeindeebene und nachhaltigere Unternehmensstrategien.

In Wuppertal beispielsweise haben Bürger ein Projekt zur Umwandlung alter Bahnstrecken in ein Radwegenetz angestoßen, das in den nächsten 30 Jahren von bis zu 90 Millionen Radfahrern genutzt werden soll.  

Deutschland Radweg Nordbahntrasse Ein Radfahrer fährt über eine Rad-Überführung
In Wuppertal initiierten Bürger ein Projekt zur Umwandlung einer alten Eisenbahnstrecke in ein RadwegenetzBild: Jochen Tack/IMAGO

Nicht weit entfernt, bereitet sich Aachen darauf vor, bis 2030 eine klimaneutrale Stadt zu werden. Die Dachflächen in Aachen, die für Photovoltaikanlagen in Frage kommen, sind groß genug, um den Strombedarf aller Einwohner zu decken. Die Finanzierung von 150 Solaranlagen ist bereits gesichert, weitere 1000 sollen noch in diesem Jahr folgen. 

Küper glaubt, dass solche Veränderungen auf Bewegungen wie Fridays for Future zurückzuführen sind. Sie üben Druck auf Politiker aus und fordern Veränderungen. Und auch der Overshoot Day sei ein wichtiges Alarmsignal für die Welt.

"Als wir zusammen mit anderen Organisationen begannen, auf diesen Tag aufmerksam zu machen, wusste kaum jemand davon. Heute sieht man, dass das öffentliche Bewusstsein für diesen Tag und die damit verbundenen Probleme massiv gestiegen ist. Und das brauchen wir. Ohne öffentlichen Druck wird sich nichts so schnell ändern, wie nötig", so Küper.