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Papst-Besuch in Umbruchzeiten

John Berwick / ch21. September 2015

Kuba steht vor einem Wandel, heißt es. Große Wohlstandserwartungen und düstere Vorahnungen einer neuen US-Dominanz halten sich die Waage. John Berwick berichtet aus Havanna.

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Papst winkt vom Auto aus Foto: DW/C. Strack
Bild: DW/C. Strack

Der Vatikan hat eine Schlüsselrolle dabei gespielt, Washington und Havanna miteinander ins Gespräch zu bringen. Und jetzt ist Papst Franziskus, auf dem Weg in die USA, selbst nach Kuba gekommen, als "Missionar der Barmherzigkeit", wie er selbst sagt.

Aber Barmherzigkeit wem gegenüber?, frage ich mich, während ich in der schicken Bar des kürzlich restaurierten Art-Deco-Hotels in Havanna, wo ich mich einquartiert habe, einen Gin-Tonic schlürfe. Das Hotel liegt nur einen Katzensprung vom kubanischen Parlament entfernt, einem neoklassizistischen Gebäude mit verstörender Ähnlichkeit mit dem Pantheon in Rom und dem Kapitol in Washington.

Meint der Papst Barmherzigkeit gegenüber gewöhnlichen Kubanern, die mehr als 50 Jahre lang unter dem US-Handelsembargo gelitten haben? (Es gibt auf der Insel immer noch Lebensmittelrationierungen.) Meint er Barmherzigkeit gegenüber den Ärmsten der Armen in Havanna, die in völlig heruntergekommenen Wohnblocks hausen, deren schiefe Fensterläden wie lose Zähne aussehen? Gar nicht zu reden von der schreienden Armut auf dem Land. Oder geht es um Barmherzigkeit als Schutz vor jemandem, vor Gott vielleicht, vor den Amerikanern, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei?

Ich fühle mich etwas verwirrt und bin nicht sicher, ob der Gin-Tonic in der brütenden Hitze eine so gute Idee war. In dieser Stimmung betrachte ich die Palmen auf der anderen Straßenseite. Kubas drückendes Klima und seine üppige Vegetation lassen das Land leicht als unberührtes Paradies erscheinen.

alte Autos Foto: DW/Ch. Strack
Einige der Taxi-Oldtimer aus vorrevolutionären Zeiten.Bild: DW/Ch. Strack

Zeichen des Wandels

Doch das nur auf den ersten Blick. Wer sich von der frisch renovierten Altstadt mit ihren freundlichen Bars und der Live-Musik, wo die klassizistischen Gebäude in allen Regenbogenfarben getüncht sind und samstagabends Flamenco getanzt wird, auch nur ein paar Blocks weit entfernt, trifft sofort auf harte, düstere Armut.

Bei meinem Blick aufs Kapitol fährt plötzlich ein Auto vorbei, ein quietschrosa Pontiac-Cabrio aus den 50ern. Die meisten dieser liebevoll und mit unendlichem Einfallsreichtum restaurierten Spritschleudern fahren als Taxis. In diesem hier sitzt eine Gruppe übergewichtiger Männer mit Baseballkappen und machen Fotos vom Parlamentsgebäude. "Amerikaner", sagt der Kellner, als er meinen erstaunten Blick sieht. Er sagt das ganz ohne wahrnehmbare Wertung, nur als Erklärung.

Ein Banner in der Hotellobby begrüßt Besucher auf Spanisch mit den Worten "Willkommen, Erzdiözese Miami!" Aber das ist Zufall. Die Amerikaner im Taxi sind sicher normale Touristen und keine Pilger, die den Papst sehen wollen. Seit der Erleichterung der Reisebeschränkungen gibt es regelmäßige Charterflüge von Miami, eine halbe Flugstunde von Kuba entfernt.

Der Barmann spielt eine CD mit leichter Klassik von Placido Domingo. Schuberts Ave Maria mischt sich, etwas unpassend, mit Smalltalk zum Aperitif.

Die Rolle der Religion

Welche Rolle die Religion in diesem Wandel spielen wird und ob überhaupt eine Rolle, ist schwer zu sagen. Von allen lateinamerikanischen Ländern hat Kuba einen der geringsten Anteile von Katholiken an der Gesamtbevölkerung. Die marxistischen Revolutionäre wollten die Religion ausrotten, und es scheint, als seien sie dabei ziemlich weit gekommen. Zwei Faktoren haben ihnen dabei geholfen.

Erstens hatte sich der kubanische Klerus vor und während der Revolution auf die Seite der Reichen und Mächtigen gestellt. Von daher war es nur natürlich, dass sich der größte Teil der Bevölkerung gegen die Kirche stellte. Zweitens konnten die Kubaner in einer Art Ersatzreligion Zuflucht suchen, als sie den Glauben an den Katholizismus verloren: die Santería, die Yoruba-Mythologie und ihre Rituale, die die Sklaven aus Westafrika mitbrachten.

"Die Santería ist viel weniger streng als die katholische Kirche, und sie ist nicht so scheinheilig", erklärt Lourdes, eine schlanke, ältere Kubanerin, die sechs Monate im Jahr in Havanna und die übrigen sechs Monate in Spanien lebt. "Ich wurde in eine katholische Familie geboren und von Nonnen erzogen. Aber ich merkte dann, wie die Schwestern die Mädchen aus den reichen Familien bevorzugten. Das brachte mich vom Katholizismus weg."

Als junge Frau "konvertierte" Lourdes zur Santería. Später kehrte sie zum katholischen Glauben zurück. "Heute", sagt sie und legt ihre kupferfarbene Haut über ihrer Nasenwurzel verschmitzt in Falten, bin ich irgendwie beides." Und das scheint typisch für die Kubaner zu sein.

Menschenmenge mit vielen Sonnenschirmen Foto: DW/Ch. Strack
Zehntausende sind in Havanna zusammengeströmt, um den Papst zu sehen.Bild: DW/Ch. Strack

Der "richtige" Papst für Kuba?

Papst Franziskus mit seiner bodenständigen, pragmatischen Art und vor allem mit seinem Einsatz für die Armen und Ausgegrenzten könnte Kuba in einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs genau die richtige Inspiration bringen.

Der Vatikan hat sich bereits eine Menge Ansehen dadurch erworben, dass er die amerikanisch-kubanische Entspannung vermittelt hat. Papst Franziskus setzt dieses Kapital jetzt ein, indem er den Kubanern sagt: "Zeigt einander Barmherzigkeit." Kuba muss seinen Weg in die Zukunft ohne Hass und Schuldzuweisungen wegen der Vergangenheit finden. Vor allem aber muss es Wege finden, die Schwächsten der Gesellschaft zu tragen, wenn der kapitalistische Tsunami einmal das Land trifft.

"Mir gefällt der Papst", sagt Lourdes nachdenklich. Ich glaube, sie meint damit nicht nur, dass der Papst ihre Abneigung gegenüber Scheinheiligkeit teilt, sondern auch, dass seine Botschaft der Barmherzigkeit genau das ist, was Kuba zu diesem kritischen Zeitpunkt braucht. Es gibt nichts Anmutiges am harten Leben gewöhnlicher Kubaner - es sei denn, man ist Tourist und sucht Fotomotive.

Doch den Kapitalismus mit all seiner Brutalität und seinem Egoismus anzunehmen ist wahrscheinlich auch keine Lösung. Kubaner wie Lourdes spüren das und suchen nach Antworten.