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Sterben nach eigenen Regeln

Martin Kübler14. September 2016

Marieke Vervoort sorgte für Schlagzeilen, als es hieß, sie wolle sich nach den Paralympics das Leben nehmen. Noch will die belgische Rollstuhl-Rennfahrerin aber nicht sterben, sondern eine weitere Medaille gewinnen.

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Die Rollstuhl-Rennfahrerin Marieke Vervoort (Foto: picture-alliance/dpa/Kyodo/MAXPPP)
Bild: picture-alliance/dpa/Kyodo/MAXPPP

"Es war unglaublich", sagt Gery Follens über den Moment, als Marieke Vervoort die Silbermedaille im Rollstuhlrennen über 400 Meter gewonnen hat - Belgiens erste Medaille bei den Paralympics in Rio de Janeiro. "Wir waren sehr glücklich, dass sie den zweiten Platz belegt hat - nach allem, was sie durchgemacht hat. Wir hätten nie damit gerechnet, dass sie für Rio ausgewählt wird. Und dass sie jetzt die Silbermedaille gewonnen hat, ist unglaublich!" Follens ist Schriftführer beim AC Lyra, dem Sportverein in der Nähe von Antwerpen, dem Marieke Vervoort angehört.

Der Medaillengewinn auch in Rio - möglicherweise kommt am Samstag noch ein weiteres Edelmetall hinzu - ist der krönende Abschluss der Rennkarriere des "Biest aus Diest" oder "Wielemie", wie Vervoort genannt wird. Die ehemalige Weltmeisterin im Paratriathlon und Rekord-Rollstuhlfahrerin brachte von den Paralympics 2012 in London bereits Gold in der T52-Rollstuhl-Klasse über 100 Meter und Silber über 200 Meter mit.

Die 37-Jährige sorgte schon im Vorfeld der Paralympischen Spiele für Schlagzeilen. Da hieß es, dass sie bereit sei, sich das Leben zu nehmen, sobald sie an den Spielen in Rio teilgenommen habe. Vervoort leidet an einer seltenen degenerativen Rückenerkrankung, die Lähmungen, ständige Schmerzen, epileptische Krämpfe und viele schlaflose Nächte verursacht.

Als Teenager hatte Marieke Vervoort die Diagnose erhalten. Im Jahr 2000 begann sie, einen Rollstuhl zu benutzen. Mittlerweile ist sie täglich auf Helfer sowie die Unterstützung ihres Labrador-Hundes Zenn angewiesen. Die Unterlagen für den Antrag auf Sterbehilfe unterschrieb sie schon 2008.

In Belgien ist Sterbehilfe bei Erwachsenen seit 2002 legal. Elf Jahre später wurde sie auf unheilbar kranke Kinder ausgeweitet. Damit ist Belgien eines der wenigen Länder weltweit, in denen diese Praxis erlaubt ist. Unterschiedliche Formen ärztlicher Suizidbeihilfe sind ebenfalls in Kanada, Luxemburg, der Schweiz sowie den Niederlanden und einigen US-Staaten legal.

"Leben genießen"

Vervoort ist eine Verfechterin der Sterbehilfe. Doch die Berichte in flämischen Medien seien missverstanden worden, sagte sie auf einer Pressekonferenz nach ihrem Sieg am Sonntag. Sich das Leben zu nehmen, komme für sie im Moment "überhaupt nicht in Frage".

Im Juli erzählte Vervoort der belgischen Nachrichtenagentur Belga, dass sie erst noch ein bisschen das Leben genießen wolle. Auf ihrer Wunschliste: ein Fallschirmsprung und ein Flug in einem F16-Kampfjet.

Die Paralympics-Sportlerin Marieke Vervoort mit ihrem Hund (Foto: picture-alliance/dpa/L. Dieffembacq)
Marieke Vervoort ist auf ihren Hund Zenn angewiesenBild: picture-alliance/dpa/L. Dieffembacq

"Ohne die Unterlagen hätte ich mir vielleicht schon längst das Leben genommen", sagt Vervoort. Sie betont, wie schwierig es war, die Ärzte dazu zu bewegen, ihr Gesuch auf Sterbehilfe zu bewilligen. Sie fordert, dass aktive Sterbehilfe auch in anderen Ländern legal wird - als ein Mittel zur Suizid-Prävention: "Sterbehilfe trägt dazu bei, dass Menschen länger leben."

Das Training ist für die belgische Sportlerin schwieriger geworden. Der Nachrichtenagentur Belga erzählte Vervoort, dass sie wegen der Schmerzen häufig das Bewusstsein verliere. "Mein Körper sagt mir, hör auf", berichtet Vervoort. "Sollte der Zeitpunkt gekommen sein, an dem ich mehr schlechte als gute Tage habe, dann habe ich meine Unterlagen - aber die Zeit ist noch nicht gekommen."

Eine letzte Medaille?

"Ihr geht's gut im Moment, sogar sehr gut", sagt Vereinskollege Follens. Über WhatsApp sei der Verein regelmäßig mit Vervoort in Kontakt. Die lange Reise nach Rio bereitete ihr anfangs Schwierigkeiten: Bei ihrer Ankunft in Brasilien musste Vervoort ins Krankenhaus. Doch jetzt trainiere sie wieder wie immer, berichtet Follens der DW.

Gery Follens ist stolz auf das, was Vervoort über die Jahre hinweg erreicht hat, seit sie 2011 dem Verein beigetreten ist. Auch ihre Auftritte außerhalb der Rennbahn haben einen guten Eindruck hinterlassen: Vervoort ist Motivationsrednerin und für Follens eine unverzichtbare Botschafterin für den Sport in seinem Verein - aber auch für die gesamte Sportwelt in Belgien. "Sie ist ein außergewöhnliches Beispiel für andere Sportler - ob mit oder ohne Behinderung", betont Follens. Vervoort motiviere die Athleten dazu, "alles zu geben".

"Sport für Menschen mit Behinderungen ist in Belgien sehr erfolgreich. Das ist zu einem nicht ganz unwesentlichen Teil auch ihrem Engagement und ihrer Hingabe zu verdanken", erzählt Follens. In diesem Jahr treten bei den Paralympics in Rio de Janeiro 29 belgische Sportler an. Das Team hat bereits drei Goldmedaillen und zwei Silbermedaillen gewonnen.

Am Samstag will Vervoort ihren Sieg in der T52-Rollstuhl-Klasse über 100 Meter, den sie vor vier Jahren bei den Spielen in London errungen hat, verteidigen - ihr letztes Rennen als paralympische Sportlerin und eine letzte Chance auf eine Medaille. Follens wird das Rennen im Livestream verfolgen.

"Nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hat, wird es für sie schwierig, ihren Titel zu verteidigen", sagt Follens. Vervoort hatte 2014 beim Kochen einen Krampfanfall, bei dem sie sich schwere Verbrennungen an den Beinen zuzog. Insgesamt habe sich ihr Zustand verschlechtert: "Aber ich hoffe, dass sie auf dem Podium stehen wird."