Paris im Mai 1968
30. August 2008Für den Maler und Journalisten Gilles de Staal ist das Vermächtnis der revolutionären spätsechziger Jahre ein wertvoller Teil seines Lebens. 1968 war er Mitglied der linksmilitanten "Revolutionären kommunistischen Jugend". Der 3. Mai, an dem die ersten großen Proteste an der Sorbonne ausbrachen, begann zunächst wie ein gewöhnlicher Tag. Doch dann trafen Hunderte von Linksmilitanten aus der Pariser Trabantenstadt Nanterre ein, wo die Universität geschlossen worden war.
Autoritäre Strukturen brechen
Einer ihrer Anführer wurde "Dany le Rouge" genannt: Daniel Cohn-Bendit. An der Universität von Nanterre wollte er unter anderem erreichen, dass das Wissen dort nicht den Eliten vorbehalten blieb. Schon seit März organisiert er Protest-Aktionen, und jetzt sollten auch die Studenten der Sorbonne mitmachen.
Gilles de Staal ging es vor allem darum, den Angriff der in seinen Augen faschistischen Organisation "L’Occident" abzuwehren. Gestört wurden er und seine Kommilitonen in ihren Vorbereitungen, als plötzlich Polizisten in die Universität eindrangen. "Dass die Polizei die Sorbonne betritt, das war unvorstellbar." Wie Hausfriedensbruch empfanden das auch die Studenten in den Cafés. Sie warfen mit Steinen nach der Polizei, während die rund 300 Militanten abgeführt wurden. Der erste von vielen Straßenkämpfen in diesem Mai 1968 brach los.
Die Nacht der Barrikaden
Am Abend des 6. Mai prallten Studenten und Polizeikräfte wieder aufeinander. Die einen warfen mit Steinen, die anderen schossen mit Tränengasgranaten. Den Studenten gelang es, die Straße zu erobern, aber sie wollten auch die noch immer von der Polizei besetzte Universität zurück. Am 10. Mai belagerten sie das Viertel südlich der Sorbonne. Irgendwann begann jemand, das Straßenpflaster auszuweiden und die Pflastersteine zusammen mit geparkten Autos in der Mitte der Straße zu Barrikaden aufzutürmen. "Die Leute brachten uns wirklich Sympathie entgegen", erinnert sich Gilles de Staal. "Sie feuerten uns vom Fenster aus an, riefen 'Bravo', und manche brachten uns Sandwiches und Wasser runter. Wir arbeiteten, und sie packten hier und da mit an - die Stimmung war sehr gut." Doch der fröhliche Aufstand endete mit Feuer und Gewalt. Die Polizisten stürmten die Barrikaden, Autos gerieten in Brand - 367 Schwerverletzte forderte diese Nacht.
Welle der Solidarisierung
Noch in der Barrikadennacht des 10. auf den 11. Mai appellierte Daniel Cohn-Bendit an die Arbeiter, sich anzuschließen. Zwei Tage später zog eine Million Menschen durch die Stadt, die Arbeiter hatten sich den Studenten angeschlossen. Aus dem Streiktag wurde ein zweiwöchiger Generalstreik. Die Arbeiter besetzten die Fabriken, die Angestellten in Paris legten die Arbeit nieder.
Die Regierung konnte die Bewegung nicht mehr ignorieren. Präsident de Gaulle beendete seinen Staatsbesuch in Rumänien früher als geplant und rief die führenden Politiker zu einer Sondersitzung im Elysées-Palast zusammen. Premier Georges Pompidou überbrachte das Fazit des Präsidenten: „Reformen ja, aber kein Mummenschanz!“ Ein Satz, der Gilles de Staal heute noch zu einem müden Lächeln bewegt.
Macht-Verwirrung
Paris war in jenen Tagen in jeder Hinsicht im Ausnahmezustand: Überall entstanden Komitees und spontane Aktionen, das Benzin wurde knapp, und der Müll stapelte sich. Präsident de Gaulle wandte sich am 24. Mai zum ersten Mal seit Beginn der Proteste drei Wochen zuvor in einer Fernsehansprache direkt an das Volk, in der er für Juni eine Abstimmung über sein Amt ankündigt. Für den Fall, dass die Französinnen und Franzosen ihm das Vertrauen entzögen, würde er sein Amt nicht länger ausüben.
Die Rede verhallte, und die Pariser gingen zum zweiten Mal auf die Barrikaden. Die Nacht vom 24. auf den 25. Mai wurde zum Gipfel der Konfrontation. Wenige Tage später war die Polizei auf einmal verschwunden. „Nichts mehr war da, auch keine politische Macht mehr. Es herrschte ein ziemliches Chaos“, beschreibt der Journalist.
Die Verwirrung war komplett, als am 29. Mai plötzlich niemand mehr wusste, wo sich der Präsident aufhielt. Charles de Gaulle hatte Frankreich verlassen. Es schlug die Stunde der politischen Konkurrenz: Pierre Mendes-France hatte mit dem jungen François Mitterand eine vorübergehende Koalition geschmiedet. Beide sahen sich politisch links, wollten allerdings keine Revolution, sondern einfach nur an die Macht. Doch General de Gaulle kehrte zurück und verhindert die Bildung einer Übergangsregierung. Er verteidigte seine Macht: Ende Juni sollten Neuwahlen stattfinden, die Revolution war verschoben.
Die Protestbewegung zerbricht
Gilles de Staal hält die Kommunistische Partei für die einzige Kraft, die mit der Bewegung ausreichend verwoben war und die Macht hätte übernehmen können. Aber die Träume vieler Studenten und Arbeiter gingen der KP zu weit. Sie hatte in den sogenannten Vereinbarungen von Grenelles einige Vorteile für den unmittelbaren Alltag der Arbeiter sichern können. Einen Umsturz wollte sie nicht.
Und die Linksmilitanten der ersten Stunde, waren sie enttäuscht? "1968 hat uns nicht überrascht, eher erstaunt, aber nicht umgerissen." Gilles de Staal kämpfte noch viele anderen Kämpfe für die Revolution, zum Beispiel in Portugal. In Paris im Sommer 1968 begann für ihn das Abenteuer erst. Als alle linksmilitanten Gruppen verboten wurden, ging er in den Untergrund.