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Politik

Kurdische Gemeinden im Schockzustand

Felat Bozarslan
19. März 2021

Nachdem die türkische Justiz ein Parteiverbot gegen die prokurdischen HDP eingeleitet hat, sitzt der Schock in der Kurdenmetropole Diyarbakir tief. Die DW sprach mit lokalen Politikern und Bürgern über die Entscheidung.

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Diyarbakır
Diyarbakır gilt als heimliche Hauptstadt der türkischen KurdenBild: DW/S. Görer

"Es geht um den Willen des Volkes. Die Entscheidung akzeptiere ich nicht", schimpft ein älterer Mann. "Wenn die HDP verboten wird, dann entsteht eben eine neue kurdische Partei, daran ist unvermeidbar", sagt eine junge Frau trotzig, die sich als Stammwählerin der Kurdenpartei HDP  bekennt. Auf den Straßen der südosttürkischen Metropole Diyarbakir, die als kulturelles und politisches Zentrum und heimliche Hauptstadt der türkischen Kurden gilt, ist das eingeleitete Verbotsverfahren gegen die HDP das am meisten diskutierte Thema.

An kaum einem anderen Ort ist die drittgrößte türkische Partei beliebter, als in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt. Die meisten Stadtbewohner reagierten auf die Nachricht enttäuscht, manche sind entsetzt. Dennoch: die Tatsache, dass der HDP ein Verbot droht, kommt für die meisten wenig überraschend.

Klage der Staatsanwaltschaft

Seit Wochen hat die türkische Regierung den Druck auf die pro-kurdische HDP stetig erhöht. Auf die Stigmatisierung als "Terror-Partei" folgten bald immer lauter werdende Forderungen von Regierungsvertretern nach einem Parteiverbot. Nun folgte der nächste Angriff: Die Staatsanwaltschaft in Ankara hat beim Obersten Gerichtshof der Türkei einen Antrag auf ein Verbot der HDP eingereicht.

Zudem will die Staatsanwaltschaft 687 Politiker der Partei mit einem Politikverbot für fünf Jahre belegen lassen - unter ihnen einige führende kurdische Politiker wie die Co-Vorsitzende Pervin Buldan und die zurzeit inhaftierten Ex-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Die Begründung lautet, dass HDP-Mitglieder mit ihren Aussagen und Handlungen beabsichtigt hätten, die Integrität des Staates zu untergraben und an terroristischen Aktivitäten beteiligt gewesen seien. In fast allen Fällen ist die Beweislast jedoch dürftig und willkürlich.

 Der lokale Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP Gönül Özel
Die lokale Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP Gönül Özel: Verbot der HPD ist illegalBild: Felat Bozarslan/DW

Die Opposition hält zusammen

Andere Oppositionsparteien solidarisieren sich mit der ins Visier geratenen Partei. Die lokale Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP, Gönül Özel, hält ein mögliches Verbotsverfahren für illegal. Der Lokalpolitiker geht davon aus, dass ein Verbot der HDP zur Gründung einer neuen Kurdenpartei führen werde. "Es geht um den Willen von sechs Millionen Menschen. Sechs Millionen Menschen haben (bei den letzten Wahlen, Anm. d. Red.) für die HDP gestimmt, um im Parlament repräsentiert zu sein. Wir haben es hier mit einem diktatorischen Regime zu tun. Es handelt sich um die reinste Unterdrückung", kritisiert Özel.

Auch die frisch gegründete Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA), eine Splitterpartei, die aus der Regierungspartei AKP hervorgegangen ist, solidarisiert sich mit der HDP. Der Verbotsantrag sei "ein Eingriff in die demokratische Gesellschaft und in die Rechtsstaatlichkeit", heißt es von der Parteiführung. Der DEVA-Vorsitzende der Provinz Diyarbakir, Cihan Ülsen, ist der Meinung, dass die HDP de facto bereits seit zwei Jahren nicht politisch aktiv sein kann, denn seit den Kommunalwahlen im März 2019 habe die Regierung die Aktivitäten von HDP-Politikern stark eingeschränkt.

Der DEVA-Vorsitzende der Provinz Diyarbakir Cihan Ülsen
Der DEVA-Vorsitzende der Provinz Diyarbakir Cihan Ülsen: Der Agriff auf die HDP ist ein Eingriff in die RechtsstaatlichkeitBild: Felat Bozarslan/DW

In den meisten der 65 Provinzen, in denen die HDP damals einen Wahlsieg errungen hatte, wurden ihre Bürgermeister und Gemeindevorstände mittlerweile entlassen und durch Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt. Der Partei sind nur sechs kleine Gemeinden verblieben.

Erdogan nur eine Marionette?

Dass die HDP nun vor dem Aus steht, ist für den Lokalpolitiker Ülsen ein Zeichen dafür, dass nun die Ultranationalisten in der Regierung das Steuer in die Hand genommen haben. Der Koalitionspartner der AKP, die rechtsextreme MHP, gilt schon lange als klarer Verfechter eines Parteiverbots der HDP. Der MHP-Vorsitzende, Devlet Bahceli, hat seit Wochen öffentlich die Justiz aufgefordert, rechtliche Schritte gegen die HDP einzuleiten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP wiederum gaben sich zu dem Thema deutlich verdeckter als ihr Juniorpartner.

Der Lokalvorsitzende aus Diyarbakir Aydin Altac
Der GELEK-Lokalvorsitzende aus Diyarbakir Aydin Altac: Die Justiz hat ihre Unabhängigkeit verlorenBild: Felat Bozarslan/DW

Kritik an der türkischen Justiz

Auch die Zukunftspartei (Gelecek Partisi) - eine weitere Splitterpartei, die aus der AKP hervorging - hat sich klar von einem HDP-Parteiverbot distanziert. Der Lokalvorsitzende aus Diyarbakir, Aydin Altac, sieht den Angriff auf die HDP als endgültigen Beweis dafür, dass die türkische Justiz nicht mehr unabhängig ist. "Die Tatsache, dass die Justiz eindeutig Anweisungen von der Regierung erhält und dann eine Klage eingereicht hat, zeigt, dass die Anklage politisch und nicht juristisch motiviert ist."

Altacs Annahme ist in der türkischen Öffentlichkeit weit verbreitet. Schließlich ähnelt die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft in Ankara, die ein Parteiverbot nahelegt und der HDP "terroristischen Aktivitäten" anlastet, den Phrasen, die häufig von Regierungspolitikern verwendet werden. Zuletzt sprach der türkische Innenminister Süleyman Soylu der HDP und ihren Mitgliedern das Existenzrecht ab. "Eine Partei, die die PKK nicht als terroristische Organisation definiert und sich nicht von ihr distanziert, kann keine politische Partei dieses Landes sein." Kurz zuvor hatte er mehr als 700 Provinz- und Bezirksvorsitzende der Kurdenpartei in Gewahrsam nehmen lassen.

Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut.