Plagiatsjäger im Namen der Wissenschaft
18. Oktober 2012Abends wird es voll im Chatraum der Plagiatsdokumentare von "VroniPlag Wiki". Ab 18 Uhr erscheinen die ersten User auf dem Bildschirm, gegen 22 Uhr sind die meisten online. Sie suchen nach Plagiaten in Doktorarbeiten. Nächtelang, neben der Arbeit. Ganz freiwillig und ohne Bezahlung. Die Anzahl der aktiven User auf der Internetplattform schwankt. Mal scheint es nur ein halbes Dutzend zu sein, bei Dissertationen von prominenten Personen sucht ein ganzer Schwarm nach Fehlern. Bis jetzt hat die Arbeit der Plagiatsjäger acht Wissenschaftler und Politiker um den Doktortitel gebracht. Der berühmteste Fall ist der des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Karl Theodor zu Guttenberg, der Anfang 2011 von seinen Ämtern zurücktreten musste, dessen Doktortitel aberkannt wurde, weil er große Teile seiner Dissertation abgeschrieben und nicht als Zitate gekennzeichnet hatte.
Und jetzt sogar die Bildungsministerin
Auch bei Bundesbildungsministerin Annette Schavan schauten die Plagiatsjäger genauer hin und wurden fündig: Es gab Zitierfehler, etwa zehn Prozent der Seiten zeigten Unstimmigkeiten auf. "VroniPlag" meinte, die seien zu geringfügig, um eine große Welle loszutreten. Und so beschloss man, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Andere sahen das nicht so: Einer der "Vroniplag"-Aktivisten setzte sich über das Votum seiner Kollegen hinweg und veröffentlichte die Ergebnisse Anfang Mai 2012 auf seinem eigenen Blog "Schavanplag". Er wollte "das nicht unter den Tisch fallen lassen", sagte er in einem Interview mit Spiegel Online.
Uneinigkeit in der Community
Und so gibt es neben "VroniPlag Wiki" weitere Blogs und Plattformen, die die Doktorarbeiten von Wissenschaftlern und Politikern genauer unter die Lupe nehmen. Sie bieten Grafiken an, die eine gute Übersicht über die Unregelmäßigkeiten in den Dissertationen geben. "Barcode" nennen die Plagiatsdokumentare den Strichcode, der markiert, auf welchen Seiten der Arbeit Zitierfehler sind. Rot und Schwarz stehen für Plagiate. Weiß bedeutet kein Plagiat. So gibt es im Balken von Frau Schavan auf "SchavanPlag" fast nur weiße Stellen, wenige rote oder schwarze. Aber: "Als Muster lässt sich erkennen, dass die Verfasserin oft vorgibt, Primärquellen zu rezipieren, während sie tatsächlich mit leichten Abwandlungen aus der Sekundärliteratur abschreibt", heißt es vom anonymen Blogger auf "SchavanPlag".
Vorsatz oder Nachlässigkeit?
In den Diskussionen der Blogger dreht es sich immer wieder um die Frage: Wie viel Spielraum gibt es beim Abschreiben? "Es gibt eine gewisse Grauzone", sagt Stefan Weber. Er ist Sachverständiger für wissenschaftliche Texte und betreibt die Plagiatsuche hauptberuflich. Dass Schavans Arbeit nicht annähernd den Grad von Guttenberg erreicht, steht für ihn außer Frage. Dennoch urteilt er streng: "Nach heutigem Standard enthält sie Plagiate. Es muss der Doktorgrad aberkannt werden."
Harte Worte. Denn die Arbeit liegt 32 Jahre zurück und könnte die Bildungsministerin im schlimmsten Fall nicht nur den Titel, sondern auch ihr Amt kosten. "Es ist ein wenig unfair", gibt Weber zu, "aber im ethischen Sinne gelten hier strengere Maßstäbe. Sie tritt nicht nur als Politikerin, sondern auch als Wissenschaftlerin auf. Ich erwarte von ihr, dass sie in ihrer Arbeit korrekt arbeitet."
Damals Zettelkasten, heute Google und Wikipedia
Stellt sich die Frage, ob es vor 32 Jahren nicht andere Standards gegeben hat – damals, als noch mit Stift und Zettelkasten gearbeitet wurde, als ein nicht gekennzeichnetes Zitat eher durchrutschte, weil es als solches nicht erkannt wurde.
"Ich würde sagen, es ist genau anders herum. Damals gab es kein Copy & Paste. Eigentlich ist es heute viel leichter schlampig zu arbeiten", findet Professor Gerhard Dannemann, er ist Leiter des Großbritannienzentrums in Berlin und Plagiatsjäger bei "VroniPlag". Er studierte zur gleichen Zeit wie Annette Schavan und hat selbst erlebt, dass Studenten wegen Schummeleien von Seminaren ausgeschlossen wurden. Heute werden Studenten und Doktoranden viel schneller beim Mogeln erwischt – schließlich sind viele Arbeiten im Netz veröffentlicht. Und so erwischt Professor Dannemann auch heute viele Studenten und geht vorbeugend und repressiv dagegen vor.
Auch bei vielen anderen Plagiatssuchern stehen persönliche Erfahrungen hinter der oft stundenlangen, zeitraubenden Arbeit. Stefan Weber kam zu seinem Job, nachdem er vor einigen Jahren mitbekam, dass ein Theologe aus Tübingen die Hälfte seiner Dissertation aus seiner eigenen Doktorarbeit abgeschrieben hatte. Andere "VroniPlag"-User sind erst durch die Guttenberg-Affäre darauf aufmerksam geworden, dass es offenbar ganz normal ist, bei Dissertationen zu pfuschen. Bemerkenswert auch der Fall von zwei Studentinnen, die exakt gleiche Doktorarbeiten mit unterschiedlich gestalteten Deckblättern eingereicht haben, was von der Uni zunächst nicht erkannt wurde.
Empörung und Irritation
Doch die Empörung spielt sich im Verborgenen ab, in der Anonymität des Netzes. Nur wenige User sind mit ihren echten Namen bekannt. Gegen Kollegen vorzugehen ist verpönt. Wer eine wissenschaftliche Karriere anstrebt, bleibt als Plagiatsjäger deshalb lieber unerkannt. "Es geht nicht um uns, sondern um die Sache", begründet Userin WiseWoman diese Scheu. Solange die Universitäten nicht selbst etwas gegen Plagiate tun, blieben viele Plagiatssucher lieber anonym. WiseWoman, die im echten Leben Debora Weber-Wulff heißt, fordert deshalb eine Clearingstelle an den Universitäten.
Auch für Stefan Weber wäre eine solche zentrale Kontrollinstanz für wissenschaftliche Arbeiten ein durchaus sinnvoller Weg um Plagiate zu verhindern. Allerdings glaubt er nicht, dass das einfach wird. Denn freiwillig würden sich die Universitäten einer Selbstprüfung nicht unterziehen. Das greife die Uni an den Grundfesten an. "Die Dunkelziffer ist riesig", sagt er, "Unis wollen mit dem Thema nichts zu tun haben." Und auch die Schwarmkompetenz der digitalen Community sieht er in Gefahr. Interesse am Thema Plagiat gebe es immer nur, wenn ein prominenter Fall in die Medien komme. Sein Schreibtisch aber biegt sich unter der Last von verdächtigen wissenschaftlichen Arbeiten. Auch ohne Bildungsministerin Schavan.