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PolitikPolen

Polen: Angst und Solidarität

20. Februar 2023

Ein Jahr nach Kriegsbeginn prägt die Anwesenheit von fast anderthalb Millionen ukrainischer Flüchtlinge den EU-Mitgliedsstaat Polen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger sehen Russland als Gefahr für ihr Land.

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Geflüchtete Ukrainer ruhen sich im März 2022 am Bahnhof Krakau, ein Kin schläft, eine ältere Frau wartet und eine junge Frau sitzt mit ihrem Hündchen auf dem Boden
Geflüchtete Ukrainer ruhen sich im März 2022 am Bahnhof Krakau von der Strapazen ihrer Reise aus, während sie darauf warten, dass sie auf Unterkünfte in Polen verteilt werdenBild: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Februar 1943. In der Region Wolhynien, damals unter deutscher Besatzung, beginnt eine Welle der Gewalt gegen die polnische Bevölkerung. Bis August des gleichen Jahren werden bei einer Reihe von Massakern bis zu 120.000 Polen von ukrainischen Nationalisten getötet. Genau 80 Jahre später ist Polen das Land, das trotz der schwierigen Geschichte Millionen ukrainischer Kriegsflüchtlinge hilft.

Beata und Karol Popko haben eines der drei Zimmer ihrer Warschauer Wohnung, in der sie mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter leben, Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. "Ich wüsste gerne, was meine Großmutter dazu sagen würde, wenn sie noch leben würde", sagt der 32-jährige Karol. "Sie hat das Wolhynien-Massaker überlebt, und meine ganze Kindheit war von ihren Geschichten über die Gräueltaten der bösen Ukrainer geprägt."

Polen Warschau | Erinnerung an Massaker in Wolhynien
Erinnerung an das Massaker von Wolhynien in Warschau zum 70. Jahrestag im Jahr 2013 Bild: Tomasz Gzell/dpa/picture alliance

Trotz dieser Erinnerungen ist für Karol Popko die Unterstützung der Flüchtlinge das Gebot der Stunde und die alten Wunden zwischen den beiden Nationen spielen keine Rolle. In den letzten zwölf Monaten haben bei ihm und seiner Familie zwölf Flüchtlinge gelebt, tagelang oder sogar wochenlang, bis sie eine separate Unterkunft fanden oder Polen verließen. Oft brachte Karol die Gäste vom Warschauer Bahnhof mit, wo er neben seinem Beruf ehrenamtlich die dort ankommenden Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützte. Zudem fuhr er auch mit Hilfskonvois in die Ukraine.

Polen wird Einwanderungsland

Der Suchmaschinen-Spezialist betreibt eines der inzwischen populärsten Internetportale für die ukrainischen Flüchtlinge in Polen. "Unsere Texte werden von in Polen lebenden Ukrainerinnen verfasst, die genau wissen, was ihre Landsleute brauchen. Wir wollen den Menschen helfen, die hier plötzlich ihr neues Leben aufbauen müssen", erklärt Popko. Auf dem Portal ukrainianinpoland.pl erfährt man zum Beispiel, wie man den polnischen Führerschein bekommt, wie man am besten einen Zahnarzt findet oder welche Hilfe Ukrainer von internationalen Organisationen erwarten können.

Beate und Karol Popko, Arm in Amr vor dem Fenster in ihrer Wohnung in Warschau
Beata und Karol Popko haben ihre Wohnung für Flüchtlinge aus der Ukraine geöffnetBild: Privat

Von Anfang an konnten sich die Flüchtlinge in Polen mehr auf private und gesellschaftliche Initiativen als auf die Behörden verlassen. Die Einreise von Millionen Menschen in kurzer Zeit war für das Land eine gewaltige Herausforderung, auf die niemand vorbereitet war. Innerhalb von wenigen Wochen und Monaten wurde Polen, das sich früher der Aufnahme von Flüchtlingen auf EU-Ebene verweigert hatte, ein Einwanderungsland.

Die meisten Flüchtlinge wollen zurück

Seit dem 24. Februar 2022 sind Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen eingereist. Die meisten sind zurückgekehrt oder haben Polen in Richtung anderer Länder verlassen. Über 1,4 Millionen haben sich in Polen registrieren lassen. Über die Zuteilung einer polnischen Versicherungsnummer (PESEL) erhalten sie staatliche Krankenversicherung und Recht auf Arbeit. Der Staat garantiert auch 70 Euro als Begrüßungsgeld und das monatliche Kindergeld in Höhe von 110 Euro. Kinderlose Erwachsene bekommen keine Unterstützung. Trotzdem ist Polen das Land, in dem sich mit Abstand die meisten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufhalten.

Ukrainische Flüchtlinge in Polen treffen sich zum Gespräch in einem für sie geschaffenen Hilfszentrum in Warschau, zwei Frauen, die sich unterhalten und eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn
Ukrainische Flüchtlinge in Polen treffen sich zum Gespräch in einem für sie geschaffenen Hilfszentrum in WarschauBild: Hesther Ng/ZUMA/picture alliance

Laut Umfragen möchten Dreiviertel von ihnen in ihre Heimat zurückkehren, daher halten sie sich lieber im Nachbarland Polen auf als in einem weit entfernt liegenden Gaststaat. Für viele Menschen aus der Ukraine ist zudem die Sprache ausschlaggebend. Polnisch und Ukrainisch sind sich so nahe, dass man sich schnell reibungslos verständigen kann. Außerdem ist ein Teil der Flüchtlinge bei Verwandten in Polen untergekommen und hat über ihre Netzwerke Arbeit gefunden.

Eine Welle der Solidarität

Schon vor dem Krieg lebten in Polen ungefähr eine Million ukrainischer Gastarbeiter. Viele von ihnen sind nach der russischen Besetzung der Krim im Jahr 2014 ins Nachbarland gezogen. Von dieser Gruppe sind nach dem 24. Februar 2022 viele Männer an die Front in ihre Heimat zurückgefahren. Derzeit leben in Polen insgesamt ungefähr 2,2 Millionen Ukrainer.

Das Ausmaß der Solidarität nach Kriegsbeginn sei überraschend gewesen, sagt Dominika Pszczolkowska, Politologin vom Zentrum für Migrationsforschung an der Universität Warschau. "In allen europäischen Vergleichen sehen die Polen schlecht aus, wenn es um gesellschaftliches Engagement geht. Was für sie zählt, sind in erster Linie Business- und Familienangelegenheiten", sagt sie der DW. Doch im Falle der Ukraine-Hilfe hätten die Polen eine enorme Fähigkeit bewiesen, sich von unten und schnell zu organisieren. 

Antiukrainische Stimmungen

Doch die Hilfsbereitschaft nimmt ab. Noch bis Ende 2022 erklärten in Umfragen 63 Prozent der Befragten, dass sie selbst oder jemand aus ihrer nächsten Umgebung Flüchtlinge aus der Privatschatulle unterstützten. Im Januar 2023 dagegen waren es laut Warschauer Meinungsforschungsinstitut CBOS nur noch 41 Prozent.

Der polnische Präsident Andrzej Duda begrüßt den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskij nach dessen Besuch in Washington am 22.12.2022
Der polnische Präsident Andrzej Duda begrüßt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Warschau am 22.12.2022Bild: Jakub Szymczuk/KPRP/REUTERS

"Es war zu erwarten, dass eine Ermüdung eintreten wird", kommentiert Pszczolkowska. Auch in Polen seien die Preise gestiegen und die Menschen könnten sich immer weniger leisten. "Und wenn jemand zum Beispiel noch länger als sonst auf den Arzt warten muss, weil auch Ukrainer in der Schlange stehen, dann lässt er leicht seinen Ärger an ihnen aus."

Laut Monitoringzentrum für Rassismus und Xenophobie in Warschau sei die Anzahl der verbalen und physischen Angriffe auf die Ukrainer drastisch gestiegen. Während der jährlichen Nationalistendemo am polnischen Nationalfeiertag, dem 11.11.2022, waren antiukrainische Parolen zu lesen und zu hören, wie "Der Ukrainer ist nicht mein Bruder", "Stopp der Ukrainisierung Polens", "Das ist nicht unser Krieg".

Eine wachsende Angst vor Russland

Doch nicht nur der Zustrom der Flüchtlinge hat Polen in den letzten zwölf Monaten geprägt, sondern auch die zunehmende Angst vor Russland. Laut CBOS halten derzeit 43 Prozent der Polinnen und Polen einen russischen Angriff auf das Land für realistisch. 78 Prozent sehen Russland als eine Gefahr.

Flüchtlingshelfer aus Warschau
Karol Popko mit einem Hilfskonvoi auf dem Weg in die UkraineBild: Privat

Auch Karol Popko hat Angst. „Ich denke, dass Putin auch Polen angreifen kann. Wenn er schon Hunderttausende Soldaten mobilisiert hat, dann kann er sie jetzt nicht wieder nach Hause schicken, irgendwas muss er mit ihnen machen. Also wird er irgendwo angreifen und dann schauen, was passiert", so sein Szenario. Vielleicht werde er in Zukunft eine Zuflucht für seine Familie und seine Firma im Ausland suchen. Aber solange es gehe, bleibe er in Polen. "Jeden Tag kommen immer noch Tausende Ukrainer nach Polen, denen geholfen werden muss."

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau