Polen: Der Sturm auf die Kirche
27. Oktober 2020Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes haben in Polen eine lange Tradition. Doch Protestierende, die in Kirchen eindringen und Gottesdienste stören, hat das Land bisher noch nicht gesehen. Am Wochenende versammelten sich zwanzig junge Frauen und Männer vor dem Altar im Posener Dom zum Sitzprotest. Sie störten die Messe mit Sprechöhren und Plakaten so massiv, dass der Pfarrer den Gottesdienst abbrechen musste.
Die Kirche am Pranger
Auch in anderen Städten versuchten Protestierende, mit Transparenten in Kirchen einzudringen. "Ihr habt Blut an den Händen", "Die Hölle der Frauen", "Lasst uns für das Recht auf Abtreibung beten", konnte man auf ihren Plakaten lesen. Mehrere Gotteshäuser, darunter der Dom in Warschau, wurden mit Protestslogans wie "Abtreibung ist ok" und "Abtreibung ohne Grenzen" besprüht. In einem Vorort Warschaus und in Posen/Poznan wurden Denkmäler von Papst Johannes Paul II. geschändet - ein Tabubruch, denn für viele Polen ist er nach wie vor eine Art Nationalheiliger.
An den Demonstrationen nehmen derzeit jeden Tag Tausende Menschen teil. Ausgelöst hat die Protestwelle eine Entscheidung des Verfassungsgerichts in der vergangenen Woche, durch die das Abtreibungsgesetz verschärft wird. Beantragt hatte das eine Gruppe rechtskonservativer Abgeordneter, die den üblichen Weg durch das Parlament vermeiden wollte und sich deshalb direkt an das Verfassungsgericht wandte.
Dass die Verfassungsrichter im Sinne der Regierenden und damit auch im Sinne der katholischen Kirche urteilen würden, war zu erwarten. Denn das Verfassungsgericht wurde schon vor Jahren mit Richtern besetzt, die der nationalkonservativen PiS-Regierung treu ergeben sind - das war Teil einer Justizreform, die von der EU seit langem als Aushöhlung der Demokratie in Polen gesehen wird.
Neue Kriegsrhetorik
Bisher ist Abtreibung in Polen im Falle einer Gesundheitsgefahr der Mutter, bei schweren Fehlbildungen des Fötus und nach einer Schwangerschaft durch Vergewaltigung zulässig. Laut dem jetzigen Urteil sollen künftig Schwangerschaftsabbrüche auch bei schweren Fehlbildungen des ungeborenen Kindes verboten werden. Denn das, so die Begründung der Richter, verstoße gegen den in der Verfassung verankerten Schutz des Lebens. Die Fötusmissbildungen waren bisher die Grundlage der meisten von rund eintausend legalen Schwangerschaftsabbrüchen, die in Polen jedes Jahr vorgenommen werden. Das Gerichtsurteil bedeutet also praktisch ein fast vollständiges Abtreibungsverbot.
Das stößt auf heftige Kritik in Polen. Die Nichtregierungsorganisation Akcja Demokracja (Aktion Demokratie), die in der Vergangenheit bereits 200.000 Unterschriften gegen verschärfte Abtreibungsbestimmungen gesammelt hatte, bezeichnet die Gerichtsentscheidung als ein "beschämendes und von Rechtsfundamentalisten diktiertes politisches Urteil". Es sei ein "Krieg gegen die Frauen". Der Slogan "Es ist ein Krieg" war auch auf den Transparenten der Demonstranten zu lesen.
Rechtsradikale hinter der Kirche
Ultrarechte Gruppen kündigten ihrerseits die Gründung einer "Nationalwache" zum Schutz der katholischen Kirche und der Kirchengebäude vor Ausschreitungen an. "Die linken Gruppen sagen, es sei ein Krieg. Wir sind in diesem Krieg dabei", erklärte Robert Bąkiewicz, der Chef der radikalnationalistischen Vereinigung Marsz Niepodległości (Unabhängigkeitsmarsch). Man befinde sich "mitten in einer neobolschewistischen Revolution", die "Zeit des Friedens und der Toleranz für Barbaren" sei vorbei, so Bąkiewicz am Montag vor einer Kirche in Warschau.
Tags zuvor war es genau hier zu Zusammenstößen der Demonstranten mit den Rechtsradikalen gekommen, als letztere den Eingang zur Kirche versperrten und die Demonstranten von der Kirchentreppe wegzudrängen versuchten. Am Montagabend bewachte die Polizei den Eingang zu einer anderen Kirche in Warschau, vor der sich Hunderte Demonstranten mit Trillerpfeifen, Trommeln und Bannern versammelt hatten. Hinter den behelmten Einsatzpolizisten stand eine Gruppe Rechtsradikaler, ebenfalls um die Kirche zu schützen. Künftig wollen sie im Rahmen der neugegründeten "Nationalwache" überall aktiv werden. "Wir werden jede Kirche, jedes Wohnviertel, jede Stadt und jedes Dorf verteidigen", so Bąkiewicz.
Protest im Parlament
Am Dienstag, dem sechsten Protesttag in Folge, wurde auch das Parlament zur Schaubühne von Protesten. Die linksliberale Opposition kritisierte das scharfe Gerichtsurteil und blockierte das Rednerpult.
Protestierende Abgeordnete hielten Transparente hoch, die zur Legalisierung der Abtreibung aufriefen. Einige hatten Kleiderbügel aus Draht mitgebracht - in Polen seit einigen Jahren ein Symbol für drastische Abtreibungsmethoden. Als es zu Tumulten kam, stellten sich Wachmänner schützend um den Vizepremier und PiS-Chef Jarosław Kaczyński. Der staatliche Fernsehsender TVP bezeichnete den Protest der Opposition als "linken Faschismus, der Polen zerstört".
Kulturkampf
In Polen wird derzeit von einem Kulturkampf gesprochen, der sich zwischen Liberalismus und Konservatismus abspielt. Die Philosophin und Publizistin Agata Bielik-Robson sagte in einem Interview mit der Wochenzeitung Newsweek Polska, die regierende PiS suche nach neuen Feindbildern, weil sie durch die letzte Regierungskrise geschwächt sei. "Es gibt neue Elemente des Kulturkriegs, die derzeit alle radikalen Kräfte anziehen", so Bielik-Robson. Das sei der Kampf gegen Gender, gegen LGBT und gegen Abtreibung, gegen vermeintliche "Elemente der Zivilisation des Todes", die aus dem liberalen Westen kämen.
Mit dem jetzigen Urteil des Verfassungsgerichts haben die katholische Kirche, die regierende PiS und andere rechtskonservative Parteien nun großenteils erreicht, wofür sie seit vielen Jahren in der Abtreibungsfrage plädieren. Und das, obwohl die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft sich in Umfragen immer wieder gegen eine Verschärfung der Abtreibungsregeln ausspricht.