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Polen geht auf die Straße

Rosalia Romaniec15. Dezember 2015

Das Land erlebt eine der größten Demonstrationswellen seit 1989. Die Politik der national-konservativen Regierung spaltet die Gesellschaft, wie seit Jahren nicht mehr. Rosalia Romaniec aus Warschau.

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Polen Demonstration gegen die Regierung
Bild: DW/R. Romaniec

Tausende Europa-freundliche Demonstranten haben sich am Samstag vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts in Warschau versammelt. Sie winkten mit nationalen und europäischen Fahnen, tanzten und sangen zu Popmusik. "Die Mehrheit im Sejm bedeutet keine diktatorische Macht", rief über Lautsprecher Mateusz Kijowski, der Organisator der Demonstration für Demokratie, bei dem etwa 50.000 Menschen durch Warschau marschierten. Auf ihren Plakaten standen Botschaften an den im Mai gewählten Präsidenten Andrzej Duda: "Du sollst die Verfassung achten!" Die Botschaft bezog sich unter anderem auf die umstrittene Ernennung von fünf neuen Verfassungsrichtern, obwohl die Vorgängerregierung zuvor schon fünf Richter ernannte. Duda weigerte sich diese zu vereidigen und nahm den Eid nur von den neuen ab. Kurz darauf erklärte das Verfassungsgericht, der Vorgang sei verfassungswidrig. Daraufhin beauftragte Duda die Regierung damit, eine Gesetzesänderung zu formulieren.

Die Wut auf den Präsidenten, der sich in schon öfter in der Grauzone des Gesetzes bewegt hatte, gab bereits Wochen vorher den Anstoß für Protest, der zunächst ziemlich harmlos auf Facebook begann. Doch dann startete Mateusz Kijowski eine Netz-Initiative. Nach wenigen Stunden folgten ihm ein paar Tausend, nach drei Tagen rund 40.000 Menschen. Kijowski nannte seine Initiative "Komitee zur Verteidigung der Demokratie", kurz KOD, mittlerweile ein Verein. Der Name ist Programm und erinnert an das "Komitee zur Verteidigung der Arbeiter", das 1976 von dem legendären Jacek Kuroń, einem polnischen Oppositionskämpfer gegründet wurde. Seine Witwe gehörte zu den ersten, die Kijowskis Initiative im Internet unterstützten.

Andrzej Duda (Foto: EPA)
Präsident Andrzej Duda (r) bei seiner Vereidigung mit Ehefrau Agata Kornhauser-DudaBild: picture-alliance/epa/R. Pietruszka

Angeheizte Stimmung

Drei Wochen nach der Gründung der KOD gingen rund 50.000 Freunde des Vereins auf die Straße. Sie versammelten sich auf einer Straßenseite, während wenige Meter auf der anderen Seite eine Gruppe von Nationalisten versuchte, die KOD-Anhänger mit lauter Musik, Gebrüll und Beleidigungen zu überstimmen. Doch sie schafften es nicht. Dazwischen stand ein großes Polizeiaufgebot und sorgte für die nötige Distanz zwischen den Fronten.

Mateusz Kijowski, Initiator der Protestbewegung KOD (Foto: dpa)
Mateusz Kijowski, Initiator der Protestbewegung KOD (Komitee zum Schutz der Demokratie), vor dem Verfassungsgericht in WarschauBild: picture alliance / dpa

Anders sah es am nächsten Tag aus. Da gehörte das Zentrum der Hauptstadt vor allem den Anhängern von Jarosław Kaczyński. Der Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) - die Partei der auch Präsident Duda angehört - ist zwar kein Amtsträger in der Regierung, doch er gilt als ihr eigentlicher Lenker. Er ist der Ziehvater der Premierministerin und des Präsidenten und kann sich deren Gefolgschaft bei der Umsetzung seiner Pläne sicher sein. "Wir sind das wahre Polen und nicht die Diebe und Kommunisten, die bis vor kurzem regiert haben", ruft Kaczyński in die Masse. Rund 20.000 Menschen jubelten ihm am Sonntag zu.

Der Chef der PiS schien die Stimmung bewusst anzuheizen. Am Morgen vor seiner Demo beschimpfte er im Fernsehen seine Kritiker als "Verräter". "Das ist die schlimmste Sorte der Polen", sagte er. Es folgte eine Kommentarflut im Internet. Noch am gleichen Tag waren Bilder von T-Shirts zu sehen, auf der Burst der demonstrative Aufdruck: "Die schlimmste Sorte der Polen."

Smoleńsk kommt zurück

Es waren nur zwei von vielen Beispielen für Demonstrationen in den vergagenen Tagen. Darunter war auch der monatliche Gebetsmarsch von Kaczyński und seinen Anhängern vor dem Präsidentenpalais, der dieses Mal von der Ehrengarde des polnischen Militärs begleitet wurde. Der Gebetsmarsch findet seit sechs Jahren statt und erinnert an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smoleńsk. Im April 2010 waren der damalige Staatschef Lech Kaczynski und 95 weitere Menschen bei dem Absturz der Präsidentenmaschine ums Leben gekommen. Obwohl mehrere Untersuchungen die Hauptschuld den Piloten der Maschine gab, will sich die Regierung dem Thema neu widmen. Kaczyński kündigte nun an, dass bald endlich ein Denkmal für die Opfer aufgestellt würde und dass "bald die ganze Wahrheit an Tageslicht" komme – großer Applaus.

Jahrestag der Flugzeugkatastrophe bei Smolensk (Foto: EPA)
Trauerzeremonie vor dem Präsidentenpalast am 5. Jahrestag der Flugzeugkatastrophe von SmolenskBild: picture-alliance/dpa/J. Kaminski

Drei Tage nach dem Marsch bekam Kaczyński selbst einen symbolischen Besuch. Bis vor kurzem demonstrierten Gegner des kommunistischen Regimes jedes Jahr am 13. Dezember vor dem Haus des Kommunisten-Generals Wojciech Jaruzelski. An diesem Tag wurde 1981 der Kriegszustand in Polen ausgerufen. Doch Jruzelski lebt nicht mehr. Und so fanden sich die Demonstranten in diesem Jahr vor dem Haus von Kaczyński ein. Dieser war selbst ein Oppositioneller gewesen und so hätte man sich eine größere Demütigung nicht ausdenken können.

Schuld ist das Ausland

Eine Stimmung wie in diesen Tagen hat es in Polen lange nicht mehr gegeben. Beunruhigend dabei, wie wenig miteinander gesprochen und diskutiert wird. Statt Gespräche gibt es Kämpfe und Anfeindungen, auch in sozialen Medien - als stünden sich nicht Bürger unterschiedlicher Meinung gegenüber, sondern Erzfeinde.

Während die meisten Kritiker der PiS die Schuld für die aktuelle gesellschaftliche Spaltung geben, beschuldigen die National-Konservativen die Vorgängerregierung. Fast gebetsmühlenartig sprechen die Politiker der PiS von "ganz einem natürlichen Prozess". Die Bürgerplattform müsse sich von ihrem Machtverlust verabschieden und dies täte weh. Die heftige Kritik in den ausländischen Medien sei nur "ein Beweis, wie tief die Fühlen und Netze der Liberalen reichen" - alles eine Verschwörung gegen "die wahren Polen".

Da hilft auch die Kritik von Martin Schulz wenig. Am Montag sagte der EU-Parlamentspräsident im Deutschlandfunk, die Ereignisse in Polen hätten einen Staatsstreich-Charakter und seien dramatisch. Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo verlangte eine Entschuldigung für diese Äußerung.

PiS-Chef Jarosław Kaczyński (l) und Ministerpräsidentin Beata Szydlo (Foto: AFP)
PiS-Chef Jarosław Kaczyński (l) und Ministerpräsidentin Beata Szydlo bei der Vorstellung des neuen KabinettsBild: Getty Images/AFP/J. Skarzynski

Lech Wałęsa warnt vor einem Bürgerkrieg

Mittlerweile warnen bekannte Persönlichkeiten vor einer Eskalation. "Das kann mit Bürgerkrieg enden", sagte der ehemalige Präsident Lech Wałęsa wörtlich im polnischen Fernsehen und warb für ein Referendum, das zur Selbstauflösung des Sejms und zum Rücktritt des Präsidenten führen könnte.

Auch ehemalige polnische Regierungschefs und Präsidenten kritisieren die Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts. "Die Regierungen vergehen, das demokratische Polen bleibt", schreiben sie in einer gemeinsamen Erklärung. Namhafte Institutionen mahnen die Achtung der Gewaltenteilung und der Demokratie. Doch die PiS hält an ihrem Kurs fest. In Planung ist beispielsweise die Umwandlung des öffentlichen Radios, Fernsehens und der Presseagentur PAP in nationale Medien.

Nicht nur die PiS in der Verantwortung

Viele fragen sich derzeit in Polen, wie es soweit kommen konnte. Doch ein Blick zurück macht klar, dass die Schuld nicht nur im Lager der PiS zu suchen ist. Auch die Vorgängerregierung machte ihrem Ruf als "liberale Bürgerplattform" schon lange keine Ehre mehr. Sie wandte sich eher einer neoliberalen Wirtschaftspolitik zu, erreichte zu wenige aus der Mitte der Gesellschaft, regierte an den Verlierern der Transformation vorbei. Man bediente vor allem das eigene Klientel: Geschäftsleute und Reiche. Dazu gehörte auch die Wahl der fünf Verfassungsrichtern kurz vor den Wahlen - also quasi auf Vorrat -, die Duda nach den Wahlen nicht mehr vereidigen wollte.

"Wir werden weiter beobachten, was die Regierung tut, doch für ebenso wichtig halten wir die politische Bildung im Lande", sagte Kijowski vom Komitee zur Verteidigung der Demokratie. Er meint, die Polen hätten in den letzten 25 Jahren vergessen, wie empfindlich die Demokratie ist und dass sie kein Selbstläufer ist. Und die Regierenden hätten vergessen, dass man "die Macht der Mehrheit nicht mit einer Diktatur verwechseln kann".