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Politiker Demirtas in Türkei zu 42 Jahren Haft verurteilt

17. Mai 2024

Der prokurdische Spitzenpolitiker Selahattin Demirtas sitzt bereits seit 2016 im Gefängnis. Nun verurteilte ihn ein Gericht zu 42 Jahren Haft. Seine Verteidiger wollen Berufung einlegen.

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Selahattin Demirtas | türkischer Politiker
Der prokurdische Politiker Selahattin Demirtas auf einem Archivbild, das ihn in seiner Gefängniszelle zeigtBild: HDP/dpa/picture alliance

Die Richter sprachen den früheren Vorsitzenden der prokurdischen HDP-Partei und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas wegen Terrorpropaganda und wegen Beihilfe zur Störung der Einheit und Integrität des Staates schuldig. Das meldete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Die Tatvorwürfe beziehen sich auf die gewaltsamen Proteste im Jahr 2014 gegen die Belagerung der nordsyrischen Stadt Kobane durch die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS). Anwälte aus Demirtas' Verteidigerteam kündigten an, Berufung gegen das Urteil einlegen zu wollen.

Zugleich wurde die frühere Ko-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksekdag, von dem Gericht in Sincan am Rande der türkischen Hauptstadt Ankara zu 30 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, wie der private Sender NTV und die Menschenrechtsgruppe MLSA berichteten. Insgesamt waren in dem Prozess 108 Menschen angeklagt worden. Zwölf Angeklagte wurden laut Anadolu freigesprochen, 72 seien flüchtig.

Türkei ignoriert EGMR-Anordnungen

Demirtas war wegen 47 Straftatbeständen angeklagt, darunter Verletzung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität sowie Anstiftung zu einem Verbrechen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Verfahren in der Vergangenheit kritisiert und mehrfach die Freilassung Demirtas' angeordnet. Die Türkei ignoriert das Urteil, obwohl sie als Mitglied des Europarates eigentlich daran gebunden ist. 

Der Strafprozess gegen Demirtas fand großes Interesse der Öffentlichkeit
Der Strafprozess gegen Demirtas fand großes Interesse der ÖffentlichkeitBild: Alican Uludag/DW

Die Proteste, in deren Verlauf Demirtas seine Taten begangen haben soll, flammten auf, als 2014 die größtenteils von Kurden bewohnte Stadt Kobane nahe der türkischen Grenze in Nordsyrien vom IS angegriffen wurde und die türkische Armee untätig blieb. Die Gefechte waren von der türkischen Seite der Grenze zu sehen.

Viele Kurden in der Türkei gaben der Armee eine Mitschuld an der nachfolgenden humanitären Katastrophe. Bei den Protesten kamen 37 Menschen zu Tode. Die Dschihadisten wurden später von syrisch-kurdischen Kämpfern, die von den USA unterstützt werden, aus Kobane verdrängt. Die Türkei sieht diese Kämpfer als Terroristen an.

Demirtas spricht von "Rache-Prozess"

Demirtas hatte das Verfahren gegen ihn in einer Aussage im vergangenen Jahr als "Rache-Prozess" bezeichnet. "Es gibt keinen einzigen Beweis gegen mich, wir wurden nicht rechtmäßig verhaftet, wir sind alle politische Geiseln", sagte er. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten 2023 gesagt, Demirtas komme nicht aus dem Gefängnis frei, solange er an der Macht sei.

Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei einem Wahlkampfauftritt im April
Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei einem Wahlkampfauftritt im AprilBild: Emin Sansar/Anadolu/picture alliance

Erdogan beschuldigt die HDP, der politische Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Die HDP weist dies zurück. Die PKK wird in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation eingestuft. Gegen die HDP läuft ein Verbotsverfahren. Abgeordnete der Partei schlossen sich zu einer neuen Partei namens DEM zusammen. Im Parlament ist sie die drittgrößte Kraft.

Der Co-Vorsitzende der DEM, Tuncer Bakirhan, prangerte das Urteil als "schwarzen Fleck in der Geschichte der türkischen Justiz" an. "Wir alle waren heute Zeugen eines juristischen Massakers", erklärte Bakirhan. "Es wurde versucht, Kurden und Revolutionäre von der politischen Bühne zu tilgen."

DEM-Abgeordnete entrollten während einer Sitzung des Parlaments Porträts von Demirtas und Yüksekdag, um gegen das Urteil zu protestieren. Unterdessen verhängte der Gouverneur von Diyarbakir ein viertägiges Demonstrationsverbot in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinz im Südosten des Landes.

Weitere Verfahren gegen Demirtas

Der charismatische Politiker Demirtas war lange ein ernsthafter Rivale Erdogans, zwei Mal trat er gegen ihn bei Präsidentschaftswahlen an. Dann wurde ihm von der Regierung in Ankara "Terrorismus" vorgeworfen, im November 2016 wurde er inhaftiert.

Der 51-Jährige sitzt in einem Gefängnis in der westtürkischen Stadt Edirne ein und muss sich in mehreren Verfahren verantworten, die von Regierungen westlicher Länder als Teil von Erdogans Vorgehen gegen politisch Andersdenkende eingestuft werden.

Kampf um Istanbul

Erdogans AK-Partei musste am 31. März bei Kommunalwahlen die schwerste Niederlage seit mehr als 20 Jahren einstecken. Experten zufolge erschwert dies seine Pläne für ein Referendum über eine Verfassungsänderung. Diese könnte dem 70-Jährigen die Möglichkeit geben, auch nach dem Ablauf seiner gegenwärtigen Amtszeit 2028 an der Macht zu bleiben.

kle/jj (afp, rtr, dpa)