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Politik

Lateinamerika: Polizeigewalt "außer Kontrolle" 

10. Oktober 2020

In Lateinamerika grassiert nicht nur die Corona-Pandemie - sondern auch Polizeigewalt. Regelmäßig werden Menschen etwa bei Protesten oder in Polizeigewahrsam getötet. Warum agieren die Sicherheitskräfte so brutal?

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Proteste in Chile
Bild: Esteban Felix/AP/dpa/picture-alliance

In Chile sorgt derzeit der Fall eines jugendlichen Demonstranten für Empörung, den ein Polizist Anfang des Monats eine Brücke hinunterstieß. Bei den Massenprotesten für eine bessere Gesundheitsversorgung Ende letzten Jahres sollen die Sicherheitskräfte mehr als 30 Menschen getötet haben. Hunderte Demonstranten erlitten zudem Augenverletzungen, weil Polizisten mit Gummigeschossen teilweise offenbar gezielt in Gesichter feuerten. 

Proteste in Chile
Demonstranten in Chile tragen Plakate mit 352 aufgemalten Augen - so viele Menschen sollen durch die Polizei ihr Augenlicht verloren habenBild: Marcelo Hernandez/Aton Chile/Imago Images

In Kolumbien starb Anfang September der Jurastudent Javier Ordoñez durch Schläge von Polizisten auf der Polizeiwache. Die Beamten hatten ihn dorthin gebracht, weil er entgegen der Corona-Vorschriften Alkohol auf der Straße getrunken haben soll. Bei den darauffolgenden Demonstrationen gegen Polizeigewalt starben laut Medienberichten 13 Zivilisten. Ende September sorgte der Fall einer Transfrau, die bei einer Verkehrskontrolle von einem Soldaten erschossen wurde, zusätzlich für Unruhen.

In Mexiko gingen im Juni Tausende gegen Polizeigewalt auf die Straße, nachdem bekannt wurde, dass der 30-jährige Giovanni López in Polizeigewahrsam starb - er war wegen Nicht-Einhalten der Mundschutzpflicht festgenommen worden. Die Foltermethoden der mexikanischen Polizei sind fast genauso gefürchtet wie die der Drogenkartelle.

Traurige Rekorde

Das sind nur drei Beispiele, die symptomatisch für nahezu alle nicht-englischsprachigen Länder auf dem amerikanischen Kontinent sind. In diesem Sommer richtete sich die weltweite Aufmerksamkeit auf das Problem der (rassistischen) Polizeigewalt in den USA, nachdem der Afroamerikaner George Floyd bei einer gewaltsamen Festnahme starb. Doch in Lateinamerika hat die Brutalität der Sicherheitskräfte noch einmal eine ganz andere Dimension.

"Das Level an Gewalt und außergerichtlichen Hinrichtungen ist vielerorts vollkommen außer Kontrolle", sagt Fernanda Doz Costa von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Ein Ländervergleich von Tötungen durch Sicherheitsbeamte der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia bestätigt diese Einschätzung. Demnach sind Venezuela und El Salvador die Länder, in denen prozentual die meisten Menschen durch die Hand von Polizisten sterben, Jamaica und Brasilien stehen auch weit oben auf der Liste. Allerdings, darauf weist Doz Costa hin, würden viele Länder solche Zahlen gar nicht erfassen oder weiterleiten, weshalb verlässliche Informationen auf diesem Gebiet kaum zu erhalten seien.

Proteste in Chile
"Ihr tötet uns" - Kolumbianer demonstrieren am 21.09.2020 gegen Polizeigewalt und die Tötung von Javier OrdoñezBild: Chepa Beltran/UIG/Imago Images

Die Geschichtswissenschaftlerin Agustina Carrizo de Reimann forscht zur Polizei in Lateinamerika, ihr zufolge ist deren exzessive Brutalität ein schon lange andauerndes, strukturelles Problem - das zum Teil auch mit der Rolle der Sicherheitskräfte in den autoritären Regimen und Diktaturen zu erklären ist, die es in vielen lateinamerikanischen Staaten bis in die 1970er, 1980er und 1990er Jahre gab.

Verquickung von Polizei und Militär

Auch Doz Costa sieht diesen Zusammenhang. Viele Polizisten hätten noch ein ähnliches Mindset wie damals, tiefgreifende Reformen habe es danach meist nicht gegeben. "Das sieht man zum Beispiel gut bei den Carabineros, der chilenischen Polizei. Sie agieren teilweise immer noch wie in der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1989. Demonstranten sind in ihren Augen eine Gefahr für den Staat, nicht Menschen, deren Recht auf friedlichen Protest sie zu schützen haben", so Amnestys stellvertretende Forschungdirektorin für Amerika. Die ultimative Ermutigung zu hartem Durchgreifen kam 2019 auch von ganz oben. So bezeichnete Präsident Piñera die Jugendlichen, die für eine bessere Gesundheitsversorgung und Bildung auf die Straße gingen, als "Kriminelle" und "unerbittliche Feinde", die sich im Krieg mit Chile befänden.

Waren die Carabineros zu Diktaturzeiten dem Verteidigungsministerium unterstellt, so ging später die operationelle Befehlsgewalt wieder an das Innenministerium über. In anderen Ländern Lateinamerikas unterliegt die Polizei bis heute dem Verteidigungsministerium, mancherorts ist der Militär- gleichzeitig der Polizeichef. Somit sind auch Trainingsmethoden ähnlich, wie Fernanda Doz Costa anmerkt. Ein weiteres großes Problem, dass damit zusammenhänge, sei die Straflosigkeit von Sicherheitsbeamten: "Sie werden bei Straffälligkeit dann einem Militärtribunal vorgeführt statt einem richtigen Gericht. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt darauf hingewiesen, dass dies nicht akzeptabel ist."

Spirale der Gewalt

Der nicht-englischsprachige Teil des amerikanischen Kontinents ist als die Weltregion mit der größten sozialen Ungleichheit und den höchsten Kriminalitätsraten bekannt. Laut einem Ranking des Statistikportal Statista etwa sind die lateinamerikanischen Städte im internationalem Vergleich mit Abstand am gefährlichsten; von den 50 Metropolen mit den höchsten Mordraten sind nur sieben nicht aus der Region. 

Coronavirus - Peru
Peruanerinnen stehen vor einer Suppenküche an - die Corona-Krise hat die Armut in Lateinamerika noch verschärftBild: picture-alliance/dpa/AP/M. Meja

Die hohe Kriminalität wird bei Erklärungsversuchen oft als Grund für das aggressive Vorgehen der Polizei angeführt - und ist auch nicht komplett von der Hand zu weisen, wie Agustina Carrizo de Reimann von der Universität Leipzig findet: "Wenn man Polizeigewalt verstehen und auch anpacken möchte, darf man sie nicht isoliert denken. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft, was Gewalt angeht, politische Polarisierung, Rassismus oder auch Korruption."

Allerdings hat mehr Gewalt auf der einen Seite so gut wie noch nie zu weniger Gewalt auf der anderen Seite geführt - sondern eher einen Teufelskreislauf von mehr und mehr Gewalt heraufbeschworen. 

Wenn ein Taschendieb hingerichtet wird

Zudem werden nicht nur Schwerstkriminelle, sondern auch  Menschen, die sich nur kleinerer Vergehen schuldig gemacht haben, oder sogar komplett Unschuldige Opfer des Konzepts "Erst schießen, dann Fragen stellen" - etwa der eingangs genannte von der Brücke gestoßene chilenische Demonstrant oder der Mexikaner, dessen Festnahme wegen Nicht-Tragen einer Maske tödlich endete.

Oder auch die vier jungen Argentinier, die im Mai einen tödlichen Autounfall im Zuge einer Verfolgungsjagd mit der Polizei erlitten, nachdem die Beamten unnötigerweise auf sie schossen. Der Fall sorgte für Schlagzeilen und Historikerin Carrizo, selbst Argentinierin, fallen mühelos weitere solcher Beispiele aus ihrem Heimatland ein. Sie selbst sei bereits Zeugin geworden, wie ein Polizist auf offener Straße einen Taschendieb erschoss. "Er hat einfach auf den Kopf gezielt." Insgesamt sieht sie das Verhältnis der Argentinier und anderer Latinos zur Polizei als zerrüttet an: "Das Misstrauen geht durch alle Bevölkerungsschichten."

Proteste in Chile
Bei Razzien wie dieser in der Favela "Cidade de Deus" in Rio de Janeiro sterben oft unbeteiligte Bewohner Bild: Antonio Lacerda/Imago Images

Wobei Polizeigewalt meistens die Armen und die Minderheiten trifft - seien es Indigene wie die Mapuche in Chile und Argentinien oder Schwarze aus Brasiliens Armenvierteln, den sogenannten Favelas. Sieht sich die Polizei vielerorts schon an sich nicht als Beschützer und Helfer der Zivilbevölkerung, dann erst recht nicht von diesen benachteiligten Gruppen. 

"Historische Chance für Reformen"

Das Problem der Polizeigewalt in Lateinamerika gibt es seit Jahrzehnten - und doch hat das Thema im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste in den USA und der jüngeren Skandale in den Ländern selbst eine neue Brisanz erhalten. Auch die Corona-Krise hat laut Fernanda Doz Costa dazu beigetragen, "dass wir gerade eine historische Chance haben, um die Polizei zu reformieren". Denn die Pandemie zeige Lateinamerika wie in einem Brennglas, wie schwerwiegend die Probleme der sozialen Ungleichheit und Polizeigewalt seien - mehr als je zuvor sei deutlich geworden, dass man eine Polizei brauche, die für alle arbeite. "Wir brauchen eine Polizei, die die Menschenrechte achtet, und nicht eine, wegen der wir befürchten müssen, dass unsere Kinder nicht lebend von einer Protestaktion zurückkommen."

Die Reform der Sicherheitsbehörden müsse etwa andere Rekrutierungs- und Trainingsmaßnahmen, eine bessere Bezahlung und ein Ende der Straflosigkeit beinhalten. Bisher habe der politische Wille zu solch tiefgreifenden Veränderungen in den meisten Ländern gefehlt. Aber "wenn sie auf lange Sicht stabil bleiben wollen, haben sie gar keine andere Wahl", so Doz Costa. Sonst werde sich die Spirale der Gewalt weiter hochschrauben, der soziale Unfrieden immer größer werden. "Bei den jüngsten Protesten in den verschiedenen Ländern haben wir gesehen: Je exzessiver die Polizei gegen die Menschen vorgegangen ist, desto mehr hat das die Demonstrationen befeuert."

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis