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Politik

Verfassungsgericht verschärft Konflikt mit EU

25. November 2021

Das Verfassungsgericht in Warschau setzt seine Fehde mit europäischen Rechtsinstitutionen fort. Richter befanden eine Vorschrift der Menschenrechtskonvention für verfassungswidrig. Juristen warnen vor den Folgen.

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Polen | Verfassungsgericht Warschau
Das Verfassungsgericht in WarschauBild: Rafal Guz/PAP/dpa/picture alliance

Diesmal ging es ganz schnell: Eine halbe Stunde nach dem Ende der Verhandlung am Mittwoch (24.11.2021) gab die Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts (TK), Julia Przyłębska, das Urteil bekannt. Sie erklärte Teile des Artikels 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf ein "faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz begründeten Gerichts" garantiert, für verfassungswidrig.

Nach Auffassung der Richter in Warschau besitzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der zum Europarat gehört, keine Kompetenzen, um über die Gesetzmäßigkeit der Wahl von Richtern am polnischen TK zu entscheiden. Das polnische Verfassungsgericht sei kein Gericht im Sinne der Konvention, hieß es zur Begründung.

Justizminister klagt, Verfassungsgericht gibt ihm recht

Damit hat sich Polens Justizminister Zbigniew Ziobro, auf dessen Antrag das TK gehandelt hat, durchgesetzt. Ziobro reagierte auf das Urteil des EGMR vom Mai 2021. Die Richter in Straßburg hatten einer polnischen Firma recht gegeben, die ihre Rechte verletzt sah, weil der Richter, der ihre Verfassungsklage abgewiesen hatte, nicht legal berufen worden sei. 

Julia Przylebska | Präsidentin polnischer Verfassungsgerichtshof
Julia Przyłębska, Präsidentin des polnischen VerfassungsgerichtsBild: Jacek Dominski/REPORTER/Eastnews/imago images

Der Ursprung dieses Konflikts liegt sechs Jahre zurück. Nach dem Wahlsieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Herbst 2015 wurden von der neuen national-konservativen Mehrheit im Parlament neue Richter am TK gewählt. Nach der Ernennung durch Staatspräsident Andrzej Duda, der aus dem gleichen rechtskonservativen Lager stammt, nahmen sie die Plätze ihrer Kollegen ein, die bereits vor dem Machtwechsel vom damals liberal dominierten Parlament ernannt worden waren. Die Mehrheit der polnischen Verfassungsrechtler sieht im Vorgehen der PiS in dieser Frage einen Bruch der Verfassung.   

Der Antrag des Justizministers, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, wurde von Vertretern des Staatspräsidenten und des Parlaments unterstützt. Sie argumentierten, mit dem Urteil vom Mai habe der EGMR ultra vires, also jenseits der Befugnissegehandelt und destabilisiere damit die polnische Rechtsordnung. Der PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk wetterte gegen den Versuch, "Polen als ein nicht rechtsstaatliches Land darzustellen und ihm damit EU-Fördermittel vorzuenthalten".  

Einsame Stimme des Bürgerrechtsbeauftragten

Das Kräfteverhältnis im Gerichtssaal war eindeutig. Nur der polnische Bürgerrechtsbeauftragte Marcin Wiącek widersetzte sich dem Vorstoß des Justizministers. "Der Antrag von Zbigniew Ziobro widerspricht internationalen Verpflichtungen Polens und gefährdet die Wirksamkeit der Urteile des Gerichtshofs in Straßburg. Er schwächt damit den Schutz polnischer Staatsbürger, der sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt", schrieb er.

Polen | Zbigniew Ziobro
Justizminister Zbigniew ZiobroBild: PAP/picture-alliance

Als sein Vertreter Mirosław Wróblewski bei der Verhandlung an die Ähnlichkeiten mit einem Fall in Russland erinnerte, in dem das Verfassungsgericht das Urteil aus Straßburg zum Jukos-Konzern ablehnte, wies ihn die TK-Präsidentin Przyłębska scharf in die Schranken.  

Unabhängige Juristen empört 

Unabhängige polnische Juristen reagierten mit Empörung auf die Entscheidung der Warschauer Verfassungsrichter. Sylwia Gregorczyk-Abram warnte vor negativen Folgen des Urteils. "Polnische Bürger haben ein weiteres Mittel zur Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten verloren", sagte die Anwältin und Aktivistin der Organisation "Freie Gerichte" dem Fernsehsender TVN.  Alle Sicherungen in der Verfassung seien bereits "herausgedreht". "Das Verfassungstribunal ist unter politischer Kontrolle, Urteile des Gerichtshofs der EU (EuGH - Anm. d. Red.) werden in Frage gestellt. Jetzt ist es zur offenen Kündigung der Menschenrechtskonvention gekommen", erläuterte Gregorczyk-Abram. Für die Regierung sei die Entscheidung ein Alibi, Urteile nicht umzusetzen.

Der ehemalige TK-Richter Wojciech Hermeliński warnte, dass Polens Konflikt mit Straßburg zum Austritt aus dem Europarat und sogar zum Polexit führen könnte. In seinen Augen wurde das Verfassungsgericht zur "dritten Parlamentskammer", die den Einfluss europäischer Gerichte schwächen soll.

Klagen weiterhin möglich?

Nicht alle Beobachter in Polen teilen diese pessimistische Sicht. Marcin Szwed, der Chef der Nichtregierungsorganisation Helsinki-Stiftung für Menschenrechte, hält Klagen polnischer Staatsbürger vor dem EGMR, etwa wegen zu langer Gerichtsverfahren, weiterhin für möglich. "Auch Klagen gegen das TK sind weiterhin möglich, wobei fraglich bleibt, ob die Regierung die Urteile umsetzt", sagte Szwed der Zeitung "Dziennik Gazeta Prawna" (DGP) am Donnerstag.

Polen | Urteil Verfassungsgericht | Demonstration in Warschau, Oktober 2021
Pro-EU-Demonstration in Warschau nach einem umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts, 10.10.2021Bild: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Auch die polnischen Kommentatoren sind sich in der Bewertung des Urteils nicht einig. Während die linksliberale "Gazeta Wyborcza" auf der ersten Seite "Menschenrechtskonvention verfassungswidrig" titelt, schreibt die DGP "Konvention gerettet" und betont, dass das Verfassungsgericht nur einen Teil und nicht den ganzen Artikel 6 in Frage gestellt habe.  

Regierung gibt nicht auf, Justizreform geht weiter

Dennoch ist das Urteil vom 24. November 2021 ein weiterer Schlag gegen europäisches Recht. Die von der PiS-Regierung forcierte Justizreform, deren Ziel die politische Kontrolle über die Gerichte ist, bleibt ein Zankapfel zwischen Warschau und Brüssel.

Am 7. Oktober 2021 stellte das Verfassungsgericht in Warschau fest, dass dem EuGH, dem Gerichtshof der Europäischen Union, die Kompetenz fehle, die Justizgesetzgebung zu kontrollieren, weil die polnische Verfassung Vorrang vor den Regelungen des EU-Vertrags habe. Vize-Justizminister Sebastian Kaleta kündigte nun im Gespräch mit DGP weitere Klagen auch gegen EGMR-Urteile an.

Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.