ESC 2021: Trällern trotz Corona
17. Mai 2021Fünf Mal ein- und ausatmen und dann noch kurz die Luft anhalten. Das ist in diesem Jahr die Eintrittskarte zum Eurovision Song Contest (ESC) in der Ahoy-Arena in der niederländischen Hafenstadt Rotterdam. Mit einem schnellem Atemtest in einem eigens aufgebauten Testzentrum werden alle Sängerinnen und Sänger, alle Teams, die Presse und die Zuschauerinnen und Zuschauer auf Corona überprüft, bevor sie die Arena betreten dürfen.
Immerhin jeweils 3500 Fans unter 70 Jahren sind bei Halbfinalen, Generalproben und der großen Finalshow am Samstag (22.05.2021) zugelassen, mit Abstand untereinander und mit großem Abstand zur riesigen Bühne.
Die Ahoy-Halle würde 16.000 Zuschauer fassen. "Wir haben ein sehr rigides Gesundheits- und Sicherheitsprotokoll", sagt Martin Oesterdahl, der verantwortliche Manager der European Broadcasting Union (EBU), die den Wettbewerb seit 1956 organisiert. "Jeder Mitwirkende wird mindestens alle 48 Stunden getestet, damit wir sicherstellen, dass keine Infektionen in die Arena getragen werden." Jubeln ist erlaubt, umarmen nicht.
Vier Mal gab es bisher Alarm im Testzelt. Mitglieder der Teams aus Polen, Rumänien, Malta und Island wurden positiv getestet und mussten in Quarantäne. Vorsorglich durften diese Länder nicht an einem gemeinsamen Defilee auf dem "türkisen Teppich" am Sonntag teilnehmen. Sollte eine Sängerin oder ein Sänger ausfallen, würde im Finale nur ein vorab produziertes Video gezeigt.
Kronjuwelen sollen wieder glänzen
Das kultige Popfestival dieses Jahr - wie im letzten Jahr - erneut ausfallen zu lassen, kam nicht in Frage. Schließlich schauen 182 Millionen Menschen am Fernseher zu. "Der ESC ist die am längsten laufende Fernsehshow der Welt. Sie läuft seit 65 Jahren und ist so etwas wie die Kronjuwelen des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens", sagt EBU-Manager Oesterdahl stolz im DW-Gespräch. Die Botschaft in diesem Jahr sei auch, dass man es in schwierigen Zeiten schaffen kann, gemeinsam so eine Show auf die Beine zu stellen.
Das Gastgeberland Niederlande hat den ESC trotz relativ hoher Infektionszahlen unterstützt. In Rotterdam sind Geschäfte, Restaurants bis 18 Uhr, sowie Hotels geöffnet. Trotzdem erwartet die Stadt Rotterdam nur wenige Fans aus dem Ausland, denn öffentliche Partys und Public Viewing fallen aus.
Der niederländische Kulturminister Hugo de Jonge war bei einem Besuch der Ahoy-Arena überzeugt, dass alles glatt gehen und die Kultur wieder auferstehen werde, mit normalen Kontakten und allem, was das Leben biete: "Es ist das erste große Event in den Niederlanden seit dem Lockdown. Deshalb freuen wir uns wirklich darauf."
Optimismus bei Jendrik Sigwart
Obwohl er seit Wochen in einer "Blase" mit seinem Team im Hotel, dem Pendelbus und der Arena lebt, freut sich auch Jendrik Sigwart unbändig auf die Auftritte auf der großen Bühne vor echtem Publikum. "Ich bin so aufgeregt. Ich kann es kaum erwarten. Es ist ein Traum", sagt der 26 Jahre alte Musical-Darsteller, der wegen Corona keine Engagements mehr hatte.
Er hat das Ticket zum ESC mit einem selbstproduzierten Video gelöst, auf das die Jury für den deutschen Vorentscheid per Zufall im Instagram-Kanal und TikTok-Kanal von Jendrik Sigwart stieß. In seinem ersten selbst geschriebenen Song "I don't feel hate" geht es knallbunt und spaßig zu. Der Künstler meint selbst grinsend, es sei nicht das weltgrößte Lied, aber es geht ins Ohr.
Wichtig sei vor allem die Botschaft: "Gib Hass nicht zurück. Wenn mich jemand eine Schwuchtel nennt, dann nenne ich ihn nicht Nazi. Ich werde versuchen mit ihm zu reden und zu erklären, dass er mich verletzt und dass es falsch ist. Aber ich werde nicht mit gleicher Münze heimzahlen." Große Chancen zu gewinnen, habe er wohl nicht, sagt der stets lachende Hamburger und zupft auf seiner mit Glitzersteinen besetzten Ukulele ein paar Takte seines Lieds für den DW-Reporter.
Feiern mit gebremstem Schaum
Vor der Halle in Rotterdam warten nur ganz wenige Fans darauf, einen ihrer Lieblingskünstler zu sehen oder gar zu treffen. Anders als sonst üblich ist Kontakt nicht erwünscht. Aus dem Pendelbus geht es direkt in die Arena. Keine Autogramme, keine Selfies. Das findet D'Avellonne van Dijk schade, aber nicht zu ändern. Die Rotterdamerin ist Fan von Kindheit an. Ihre Mutter hat schon die Show geschaut. Jetzt zelebriert sie jedes Jahr mit Freunden die ESC-Party. In diesem Jahr im engsten Kreis mit einem extra angeschafften Beamer, mit dem das Fernsehbild an die Hauswand projiziert wird. "Dieser Mix aus atemberaubend gut, verrückt und schön, all das zusammen macht den Wettbewerb so glorios für mich. Es ist so toll."
Diese schrille Mischung und das diesjährige Motto "Open up" sind für D'Avellonne van Dijk auch der Grund warum, der ESC so viele treue Fans unter Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transsexuellen und queeren Menschen hat. "Für mich bedeutet das Motto, öffnet euch für alle Arten von verschiedenen Menschen, öffnet euch für verschiedene Lebensstile. Seid offen für die Erfahrung von Unterschieden und wie wunderbar es ist, dass wir nicht alle exakt gleich sind", meint D'Avellonne van Dijk.
Viele Schwule fiebern wie immer mit
Da wegen Corona die großen Parties abgesagt wurden, ist die Vereinigung "GayRotterdam" ins Netz ausgewichen. Mit Livestreams und Videokonferenzen werden die Fans untereinander verknüpft, sagt Gert-Jan Verboom, der als Redakteur von "GayRotterdam" die Veranstaltungen organisiert.
"Mit dem ESC in Rotterdam haben wir die Chance zu zeigen, was die LGBTQ Familie zu bieten hat. Und wir können Menschen präsentieren, die tolle Dinge bei der Gleichstellung geleistet haben", sagt Gert-Jan Verboom, der natürlich auch sein Leben lang eingefleischter ESC-Fan ist. "Praktisch schon vor der Geburt, denn meine Mutter hat schon die Show gesehen, als sie mit mir schwanger war.
Gast bei einer der Videokonferenzen von "GayRotterdam" war Vasil Garvanliev, der ESC-Teilnehmer aus Nordmazedonien. In seiner Heimat sorgte Vasils Homosexualität für Aufregung und Anfeindungen, beispielhaft für viele osteuropäische und Balkanstaaten. Außerdem musste sich Vasil gegen Vorwürfe zur Wehr setzen, er sei ein verkappter bulgarischer Nationalist. Nach einigem Drama konnte Vasil dennoch für den öffentlich-rechtlichen Sender in Nordmazedonien nach Rotterdam fahren.
Nächstes Jahr Malta?
Natürlich wird in Wettbüros, im Pressezentrum in der Arena und bei den Fans heiß diskutiert, wer dieses Jahr gewinnen könnte. Vasil wird kaum genannt. Vielleicht eher die isländischen Nerds, die italienischen Rocker, die serbischen blonden Pop-Diven oder die schwarze Soul-Sängerin aus Malta?
Für Destiny aus Malta, die über das Selbstbewusstsein von Frauen singt, stehen die Chancen ganz gut. Auch Gert-Jan Verboom von "GayRotterdam" drückt ihr die Daumen. "Vor allem weil ich nächstes Jahr mal nach Malta möchte", sagt er grinsend. Denn traditionell richtet das siegreiche Land die nächste Show aus.