Was uns Postkarten über Antiziganismus erzählen
31. Januar 2022Als nostalgische Erinnerung an den Urlaub oder als Sammlerstück sind Ansichtskarten auch 150 Jahre nach ihrer Erfindung für die meisten Menschen etwas Besonderes - ihre ursprüngliche Aufgabe als alltägliches Kommunikationsmittel haben inzwischen SMS und Messengerdienste wie WhatsApp übernommen.
Dabei gab es eine Zeit, in der Postkarten als Medium für schnelle Nachrichten unerlässlich waren. Zum Ende des 19. Jahrhunderts und weit bis ins 20. Jahrhundert schickten sich Menschen tagtäglich Postkarten, um sich über Neuigkeiten auszutauschen oder sich zu verabreden. Postkarten waren Massenware - und damit auch die Bilder, die auf ihrer Vorderseite abgedruckt wurden. Unter den tausendfach reproduzierten Motiven waren auch Darstellungen von Sinti und Roma, die von einem Forschungsteam im Projekt "DigiRom" untersucht werden. Das Projekt wurde von der Vereinigung für die Verständigung von Rom und Nicht-Rom (Rom e.V.) in Auftrag gegeben und wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, inwiefern die Bilder von Sinti und Roma rassistische und antiziganistische Zuschreibungen enthalten.
Antiziganismus - so steht es im Glossar des Vereins Amaro Foro, der die Interessen jugendlicher Roma vertritt - ist "eine spezifische Form von Rassismus gegen Menschen mit selbst- oder fremdzugeschriebenem Roma-Hintergrund".
Stereotype entsprachen nicht der Lebenswirklichkeit
"Wenn es um Roma und Sinti geht, hat man sich in den auf den Postkarten abgedruckten Motiven auf einen gewissen Exotismus, beziehungsweise auf die Darstellung von Alterität beschränkt", sagt Vera Tönsfeldt, die Leiterin des Projekts, im Gespräch mit der DW.
Ursprünglich war es die Aufgabe der Forscher, die historischen Postkarten zu archivieren und zu digitalisieren, um sie in einer Datenbank öffentlich verfügbar zu machen. Jedoch sei ihnen schnell klar geworden, dass das Projekt sich auch mit Rassismus beschäftigen müsse. "Wir hatten plötzlich tausende Ansichtskarten, die wir uns angeschaut haben und uns dachten: Was ist denn hier eigentlich für ein Bild dargestellt?", so die Forscherin.
Die mehr als 2500 Postkarten aus dem späten 19. Jahrhundert bis nach dem Ersten Weltkrieg wiederholen sich in ihren Bildmotiven: Armut, Devianz, Ortslosigkeit. Oft sind Roma auf den historischen Postkarten als Nomaden dargestellt, die in kargen Landschaften in Zelten leben und unter sich bleiben, auch wenn das kaum der Lebenswirklichkeit der meisten Roma entsprach.
Oft wird aus der Vogelperspektive der Kamera auf die porträtierten Roma und Sinti - nicht nur im übertragenen Sinne - hinabgeblickt. "Die Romantisierung der Roma und der Exotismus gingen ganz häufig auch sehr stark mit einer Sexualisierung einher", sagt Vera Tönsfeldt. So zeigen die allermeisten Postkarten Frauen, häufig auch mit vielen Kindern. Noch dazu sind die Frauen teilweise entblößt oder tragen ihre Haare offen, was zur damaligen Zeit verpönt war.
Abgrenzung zum bürgerlichen Ideal
"Durch diese Art der Darstellung von Roma und Sinti fand damals eine Abgrenzung zum bürgerlichen Ideal der Zeit statt", so Tönsfeldt weiter. Das vermeintlich archaische und "wilde Leben" der Roma wurde einerseits verklärt, andererseits wurden Roma aufgrund dieser Fremdzuschreibungen aus dem normativen Gesellschaftsideal ausgeschlossen. Die Massenmedien waren ein Katalysator dieser Stigmatisierung.
Zu diesem Ergebnis ist auch die von der vorherigen Bundesregierung einberufene Unabhängige Kommission Antiziganismus gekommen. "Neue Druckverfahren und die Entstehung neuer Massenmedien wie etwa Bildpostkarten oder illustrierte Zeitschriften bildeten wichtige Faktoren für die Verankerung antiziganistischer Denkmuster im öffentlichen Bewusstsein", heißt es in einem Bericht aus dem Mai 2021. Massenkommunikation und die damit verbundene Zunahme der Reproduzierbarkeit von Bildern seien "von kaum zu überschätzender Bedeutung" für die Entwicklung des Stereotyps der Roma und Sinti gewesen.
Fotografien vermitteln Illusion der Unmittelbarkeit
Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext das Medium der Fotografie, denn die meisten Postkarten waren nicht etwa mit Zeichnungen oder Gemälden, sondern mit Fotos bedruckt. Dabei "neigt man dazu, ausschließlich die darauf abgebildeten Objekte zu sehen und nicht das Foto selbst, auf dem die Objekte auf eine kulturell wie technisch vorgeprägte Art und Weise ins Bild gesetzt werden", schreibt die Kommission Antiziganismus.
Es entsteht also die Illusion, dass die Abbildungen von Sinti und Roma eine exakte Spiegelung ihrer Realität seien. Und das, obwohl Fotos zwangsweise immer eine Inszenierung oder nur ein sehr kleiner Ausschnitt von sowas wie einem Alltag seien, so Vera Tönsfeldt. Und bei den gesammelten Postkarten nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Porträtierten dazu aufgefordert wurden, bestimmte stereotype Haltungen einzunehmen.
Den historischen Kontext einbeziehen
Selma Idrizi, eine Mitarbeiterin des "DigiRom"-Projektes, plädiert dafür, dass man die Bilder trotzdem in ihrem historischen Kontext betrachtet. "Man kann die Bilder nur aus ihrem Entstehungskontext verstehen, in dem sich manche Menschen der rassistischen Elemente sicherlich nicht bewusst waren", meint Idrizi, die selbst in der Roma-Community aktiv ist. Sorge bereitet ihr jedoch, dass die gleichen rassistischen Stereotype heutzutage noch immer verwendet würden. "In den sozialen Medien rufen solche stereotypischen Darstellungen Hassrede hervor, und das ist ein Problem, das angegangen werden muss", so Idrizi.
Die Frage, die sich stellt, ist: Trägt man zu diesem Stereotyp bei, wenn man Bilder von den historischen Postkarten veröffentlicht? Diese Frage betrifft sowohl die Berichterstattung als auch nicht zuletzt das Projekt "DigiRom", das die digitalisierten Postkarten am Ende in einer Datenbank veröffentlichen möchte. Noch hat Vera Tönsfeldt keine endgültige Antwort auf diese Frage gefunden. Aber der Weg dahin ist für sie klar: "Letztendlich ist es das Wichtigste, dass wir anfangen, miteinander zu sprechen."