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Ahmad Mansour: "Wir brauchen einen deutschen Islam"

Das Interview führte Sabine Peschel3. Mai 2016

Für seinen "außerordentlichen Einsatz für Demokratie, Toleranz und Integration" erhält der Autor Ahmad Mansour den Carl-von-Ossietzky-Preis. Im DW-Gespräch spricht er über seine Vorstellung von einem säkularen Islam.

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Ahmad Mansour (Foto: picture-alliance/dpa/Eventpress Stauffenberg)
Bild: picture-alliance/dpa/Eventpress Stauffenberg

DW: Herr Mansour, Sie haben schon mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den Josef-Mendelssohn-Preis des Berliner Senats. Was bedeutet Ihnen jetzt dieser Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik, den Ihnen die Stadt Oldenburg verleiht?

Ahmad Mansour: Natürlich war der Josef-Mendelssohn-Preis auch ein Riesenereignis in meinem Leben und auch für meine Mitstreiter. Aber jetzt außerhalb Berlins diese Anerkennung zu bekommen, gibt mit das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein.

Mit Ihren Analysen des islamischen Extremismus sind Sie seit Wochen in den deutschen Medien gefragt. Dadurch sind Sie eine sehr öffentliche Person geworden. Sie werden von Islamisten, aber inzwischen auch von rechten Extremisten bedroht und erhalten Personenschutz. Wie belastend ist das für Sie? Können Sie noch ungestört arbeiten?

Wenn ich in einer Schule oder bei einer Veranstaltung bin, kann ich das sehr gut ausblenden. Die Bedrohung gehört leider dazu. Deshalb empfinde ich diesen Preis auch als eine Anerkennung, die gegen den Hass steuert. Solche Abende und Veranstaltungen zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in diesem Land ähnlich wie ich denkt und meine Arbeit gut findet.

Aktuell ist die Debatte um Moscheen in Deutschland, um ihre Finanzierung und die Sprache, in der gepredigt wird, erneut heftig entbrannt. Der Unions-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder hat eine staatliche Kontrolle von Moscheen gefordert. Hielten Sie das für sinnvoll?

Nein, so pauschal nicht. Moscheen, in denen Hass gepredigt wird, werden sowieso vom Verfassungsschutz beobachtet. Wir brauchen einen deutschen, einen europäischen Islam. Einen, der ohne Wenn und Aber hinter den Menschenrechten steht. Das ist aber nicht die Aufgabe der Union, der SPD oder der Grünen, sondern es ist die Aufgabe der Muslime, innerislamische Debatten zu führen und den Islam in Deutschland ankommen zu lassen, vor allem für junge Menschen.

Wenn in den Moscheen auch Deutsch gesprochen würde, wäre das natürlich für die jungen Menschen viel besser als die Situation, wie sie jetzt ist. Die Radikalisierung findet auch statt, weil die Salafisten die einzigen sind, die Deutsch sprechen und die Jugendsprache kennen. Aber wird dürfen auch nicht verkennen, dass es hier nicht nur um Jugendliche geht. Es gibt genügend Menschen, Ältere, ehemalige Gastarbeiter, die einfach in die Moscheen gehen und ihre Sprache und Themen finden können sollten. Deshalb sollten wir das nicht so pauschal sehen.

Muslime beim Freitagsgebet in einer Moschee in Berlin (Foto: Getty Images/AFP/T. Schwarz)
Freitagsgebet in Berlin - Moscheen unter Beobachtung?Bild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Ich bin für einen vom Ausland unabhängigen Islam in Deutschland. Unabhängig von der Türkei, von Saudi-Arabien. Aber das lässt sich nicht über Gesetze und auch nicht über solche pauschalen, undifferenzierten Forderungen erreichen. Es muss eine innerislamische Debatte geben, eine differenzierte Islamdebatte in Deutschland. Verharmlosung auf der einen Seite, auf der anderen Pauschalisierung – das hilft uns beides nicht.

Welche Rolle können die muslimischen Verbände übernehmen?

Die Politik räumt den muslimischen Verbänden viel mehr Macht ein, als sie eigentlich haben, denn sie repräsentieren längst nicht alle Muslime. Und leider handelt es sich bei ihnen um konservative muslimische Verbände, die einen Islam predigen, der nicht immer hinter Demokratie und Menschenrechten steht. Wenn es um den Schwimmunterricht geht, um Angstpädagogik oder Gleichberechtigung – ich glaube, dass die Lage heute schon ganz anders ist als noch vor vier oder fünf Jahren. Aber ich wünsche mir Verbände, Moscheevereine und Muslime, die mehr tun als nur zu sagen: "Das hat mit dem Islam nichts zu tun." Die jungen Menschen Alternativen zeigen. Die ein Islamverständnis propagieren, das bedingungslos hinter dem Grundgesetz steht. Bis dahin ist es noch ein langer Weg.

Diese tiefgreifende Reform des Islam fordern Sie auch in Ihrem Buch "Generation Allah". Erkennen Sie positive Entwicklungen?

Auch. Vor fünf Jahren hatten die Salafisten noch ungehindert Zugang zu sehr vielen Moscheen. Sie wurden als Starprediger eingeladen. Heute sind die meisten Moscheen sehr kritisch gegenüber diesen Radikalen. Es wird mehr getan, um Jugendliche auf die Risiken und die Gefahren der Radikalisierung aufmerksam zu machen. Aber das ist noch längst nicht ausreichend. Das Islamverständnis, das sehr viele Menschen in diesem Land haben und das in vielen Moscheen vertreten wird, schafft in einer abgeschwächten Form schon die Basis, auf der die Radikalen ihre Ideologien aufbauen. Deshalb bin ich der Meinung, dass man da eine Reform braucht, um einen Islam zu präsentieren, der nichts mehr mit Radikalen gemein hat.

Buchcover von Ahmad Mansour 'Generation Allah' (Foto: S.Fischer)
"Generation Allah": Forderung nach einer Reform des IslamBild: S.Fischer

Warum gelingt es nicht, die zweite und dritte Generation der Einwanderer für Freiheit und Demokratie zu begeistern?

Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Einer ist dieses Gefühl, nicht dazu zu gehören, diese Vermittlung eines "Ihr/Wir"-Gefühls an den Schulen, aber auch in der Mehrheitsgesellschaft.

Was, wenn nicht die Religion, könnte denn für islamische Jugendliche identitätsstiftend wirken?

Es kann durchaus auch die Religion sein, sofern die Religion nicht zur Radikalisierung führt. Aber es muss eine Möglichkeit geben, sie mit Freiheit und Demokratie zu vereinbaren. Identität stiften, das kann aber vor allem das Gefühl, dazu zu gehören, zu Deutschland, zu Europa, ein Wir-Gefühl. Das kann die Freiheit, das kann das Grundgesetz, es gibt viele Möglichkeiten. Und es gibt ja auch viele Jugendliche, die sehr dankbar sind, hier zu leben, sich zu entfalten, ihre Stärken zu suchen.

Warum gelingt es radikalen Imamen trotzdem, Jugendliche zu erreichen und sie beispielsweise zu Salafisten zu machen?

Diese Menschen erreichen die Jugendlichen, weil sie ihnen ein Angebot machen. Sie geben ihnen eine Aufgabe, eine Mission, die Möglichkeit, zu einer Elite zu gehören. Diese Prediger sind nicht nur in den Moscheen und warten auf die Jugendlichen, sondern sie wissen, wo die Jugendlichen sind, und sind dort vor Ort. Sie kümmern sich um die Jugendlichen und gehen fragend auf sie zu. Sie sind im Internet, sie sind vor den Schulen, vor den Casinos, da, wo die Jugendlichen Fußball spielen – und machen ihnen Angebote. Das ist genau der Punkt, wo wir umdenken sollten. Unsere Sozialarbeiter, unsere Schulen unsere Eltern müssen auch in der Lage dazu sein, diese Jugendlichen zu verstehen und Angebote zu machen. So lange die Salafisten weiter allein auf diesem Feld aktiv sind, werden weiter Menschen radikalisiert.

Was wird an deutschen Schulen in Hinblick auf die Gefahr des islamischen Fundamentalismus grundsätzlich falsch gemacht?

Vieles. Zuallererst, dass die Lehrer, die dort arbeiten, während ihrer Ausbildung kaum etwas über diese Jugendlichen, ihre Welten und die Religion mitbekommen. Sie wissen nicht, was die Jugendlichen bewegt. Es wird in den Schulen kaum Biografie-Arbeit geleistet. Diese Lehrer sind nicht in der Lage, radikale Tendenzen zu erkennen. Die Jugendlichen wollen über aktuelle politische Themen reden, aber das passiert leider nicht in den Schulen, sondern im Internet. Und dort sind die Radikalen natürlich überproportional repräsentiert. Kritisches und freiheitlich-demokratisches Denken wird an der Schule nicht gefördert, Streitkultur ist nicht vorhanden. Jugendliche, die aus patriarchalischen Familien kommen und das in ihren Familien nicht lernen, sind dann natürlich sehr anfällig für radikale Tendenzen.

Sie sind Psychologe und arbeiten seit 2007 als Gruppenleiter am Projekt "Heroes" in Berlin, ein Projekt in dem sich junge Männer mit Migrationshintergrund für Gleichberechtigung einsetzen. Wie erfolgreich sind Sie damit?

Wir wollten damals eine Bewegung werden, und ich glaube, wir sind auch eine geworden. Wir haben das Thema schon Jahre vor der Kölner Silvesternacht (in der Frauen sexuell attackiert wurden, Anm. d. Red.) angesprochen. Wir haben darauf hingewiesen, dass patriarchalische Strukturen zur Unterdrückung der Sexualität führen, zu Ungleichberechtigung zwischen Mann und Frau, dass das mit unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar ist. Wir haben mit drei, vier Personen angefangen und sind mittlerweile Hunderte. Wir haben schon Tausende von Workshops in Schulen abgehalten, Jugendlichen Alternativen angeboten. Das Thema ist angekommen, bei Lehrern, bei Sozialarbeitern, bei Polizeibeamten, bei Schülern und Schülerinnen, in der Moschee, in der Community – und das zeigt, wie notwendig diese Arbeit immer noch ist.

Sie selber wurden in Ihrer Jugend von einem Imam gefördert, aber auch radikalisiert. Was hat Ihnen die Abkehr vom fundamentalistischen Islam möglich gemacht?

Wenn ich das in einem Satz sagen möchte, dann war es meine Neugier. Neugier auf die Menschen, die ich kennengelernt habe. Zu hinterfragen, nachzudenken, alles infrage zu stellen, was ich dann an der Universität gelernt habe. Das hat dazu geführt, dass ich mich befreien konnte.

Sie werden mit dem Ossietzky-Preis für Ihren Einsatz für die Menschenrechte und auch für Ihre Toleranz geehrt. Nach den Anschlägen von Paris und Brüssel haben Sie aber auch immer wieder auf die notwendigen Grenzen der Toleranz hingewiesen. Wo ziehen Sie diese Grenzen?

Unrecht sollte man nie tolerieren. Toleranz bedeutet Vielfalt, bedeutet auch, unterschiedliche Menschen als Teil dieser Gesellschaft zu sehen und dementsprechend auf sie zu reagieren. Aber ich sehe nicht, dass man Fundamentalisten im Namen von Religion oder Meinungsfreiheit tolerieren sollte. Ich bin auch nicht der Meinung, dass ich als Lehrer oder als Politiker in Kauf nehme sollte, dass eine Schülerin mit muslimischem Hintergrund nicht am Schwimmunterricht teilnimmt. Das ist meiner Meinung nach keine Toleranz, sondern eine Art von Rassismus, weil ich in Kauf nehme, dass dieses Mädchen weniger lernt als ein nicht-muslimisches Mädchen.

Musliminnen in einem Schwimmbad in Deutschland (Foto: dpa - Bildfunk)
Schwimmunterricht - auch für muslimische Mädchen?Bild: picture alliance/dpa/Rolf Haid

Viele arabische Exil-Intellektuelle (selbst Kontrahenten wie der irakisch-deutsche Schriftsteller Najem Wali und der syrische Dichter Adonis) plädieren für einen aufgeklärten Atheismus oder zumindest dafür, dass Religion strikt Privatsache sein müsse. Wie ist Ihre Haltung?

Das wäre mein Wunsch. Für viele Menschen wäre das auch eine interessante Perspektive. Aber es gibt nun mal ganz viele religiöse Menschen. Die Religiosität nimmt aktuell eher zu als ab. Nicht nur in der muslimischen Community. Und wenn die Menschen in dieser Religion eine stärkere Orientierung finden, dann dürfen wir ihnen das nicht wegnehmen. Wenn sie das als mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar sehen und ihrem Glauben nicht eine politische Dimension geben, dann sollten sie ihn behalten. Aber wir müssen eine Kultur schaffen, durch die wir den Menschen vermitteln, dass unterschiedliche Meinungen und verschiedene Auffassungen von Religion nebeneinander existieren können. Das wäre nicht nur für Deutschland, sondern vor allem auch für die arabischen Länder eine enorme Bereicherung.

Das Interview führte Sabine Peschel.

Heute kämpft der Psychologe Ahmad Mansour gegen die Radikalisierung islamischer Jugendlicher. Er weiß, wovon er spricht, denn als junger Mann war er selber Islamist. Der 1976 geborene arabisch-israelische Autorwuchs in einem Dorf bei Tel Aviv auf, in einer Atmosphäre der Angst und Unterdrückung, aus der er sich erst während des Studiums in Tel Aviv befreien konnte. Nachdem er dort einen palästinensischen Terrorangriff miterlebt hatte, entschied er sich 2004, nach Berlin zu gehen. Sein Buch "Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen" erschien 2015 im S. Fischer Verlag.

Der Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik erinnert an den Journalisten und Pazifisten Carl von Ossietzky (1889-1938). Er wird von der Stadt Oldenburg alle zwei Jahre für Arbeiten, Gesamtwerke oder an Personen vergeben, die sich in herausragender Weise mit dem Leben und Werk Ossietzkys, dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder mit der demokratischen Tradition und Gegenwart befassen. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Am 3. Mai 2016 wurde er Ahmad Mansour überreicht.