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Politik

"Antisemitismus ist Dummheit"

Nastassja Shtrauchler
24. Oktober 2019

Sie hätten zu viel Macht über die Wirtschaft, sprächen zu häufig über den Holocaust. Laut einer Studie teilen viele Deutsche solche antisemitischen Ansichten. Ein Kölner Rabbiner ist nicht überrascht.

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Deutschland Jechiel Brukner, Rabbiner aus Köln
Der Kölner Rabbiner Yechiel Brukner während einer Solidaritätsveranstaltung nach dem Anschlag von HalleBild: Sammy Ahren

Wie stark judenfeindliche Ansichten auch unter gebildeten Gutverdienern in Deutschland verbreitet sind, hat eine repräsentative Umfrage des Jüdischen Weltkongresses belegt. Die Vereinigung, die jüdische Gemeinden und Organisationen in 100 Länden vertritt, hatte dazu vor zweieinhalb Monaten 1300 Deutsche befragt. Jeder Vierte hat demnach antisemitische Gedanken, 41 Prozent fanden, Juden redeten zu viel über den Holocaust, die systematische Vernichtung von sechs Millionen Juden währen des Nationalsozialmus. Gefragt danach, ob sie schon jemals einen Juden kennen gelernt hätten, gaben von 1000 Befragten 21 Prozent als Antwort "Nein" an. 66 Prozent sagten, dass ihnen nicht bewusst wäre, ob sie jemals privat mit einem Juden zu tun gehabt hätten.

Das bestätigt auch die These des Kölner Rabbiner Yechiel Brukner. Er bezeichnet den Hass im Gespräch mit der DW als "irrational". Auch er hat bereits mehrfach Erfahrungen vor allem mit verbal ausgelebtem Antisemitismus gemacht. Nachdem seine Frau einem Mann in einer Kölner Bahn geholfen hatte, sagte dieser zu den beiden: "Das wird auch nichts an unserem Hass gegen euch ändern." 

DW: Jeder vierte Deutsche hegt laut der Umfrage des Jüdischen Weltkongresses antisemitische Gedanken. Überrascht Sie diese Zahl?

Rabbiner Yechiel Brukner: Nein, denn diese Zahl habe ich schon vor zehn Jahren gehört, als ich das erste Mal nach Deutschland kam. Ich bin also A) nicht überrascht, weil ich irgendwie das Gefühl habe, das sei schon immer so gewesen im letzten Jahrzehnt. Und B): Wieso sollte es denn anders sein? Ich erkläre Ihnen, was ich damit meine: Antisemitismus in Deutschland ist genauso irrational wie Juden in Deutschland nach dem Holocaust. Beide Phänomene sind nicht rational zu erfassen.

Antisemitismus in Deutschland ist irrational, weil die Deutschen in ihrem Alltag kaum auf sichtbare Juden stoßen. Davon auszugehen, dass 25 Prozent der Deutschen in ihrem Alltag irgendwelche Reibungen oder Berührungen haben mit Juden, ist absolut skurril und surreal. Deshalb ist dieser Antisemitismus etwas, was keinen Zusammenhang mit der Realität haben kann.

Kommt Antisemitismus also Ihrer Meinung vor allem von einer Unwissenheit über Juden und das Judentum?

Ich sage Ihnen nicht, was ich dazu meine, sondern das, was ich von vielen Menschen, Nicht-Juden, gehört habe, die sich damit beschäftigen. Die haben mir gesagt: Antisemitismus ist pure Dummheit. Keine Ignoranz, sondern Dummheit. – auch wenn Ignoranz dabei natürlich eine Rolle spielt.

Was mich in dieser Umfrage wirklich besorgt, sind die 41 Prozent die meinen, dass die Juden zu viel über den Holocaust sprechen. Da sehe ich das Problem. Nicht nur dass die Leute nichts wissen, sondern dass sie auch davon nichts wissen wollen. Die haben eine innere Ablehnung, eine Abscheu gegen dieses Thema. Dieser Nicht-Willen, der historischen Bürde, die die Deutschen nun mal mitschleppen und auch noch viele Jahre mitschleppen müssen, begegnen zu wollen, sehe ich als eigentliches Problem. Die Deutschen müssen in allen brutalen Details wissen, wozu ihre Großväter, Väter und auch Mütter fähig gewesen sind. Nur dann haben sie den notwendigen Immunstoff, damit sich die Geschichte nicht wiederholt, damit sie dem nicht wieder anheimfallen.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dieser, wie Sie es nennen "inneren Ablehnung" gegenüber der Geschichte und dem gegenwärtigen Antisemitismus?

Bevor wir darüber sprechen, sollten wir lieber darüber nachdenken, warum viele Deutsche dies nicht wissen wollen. Warum finden sie, dass wir Juden zu viel über den Holocaust sprechen? Der Grund ist ganz einfach: Jeder Mensch will bequem leben, und das ist unbequem. Warum müssen die Deutschen auf ihrem Buckel herumtragen, was Schweizer, Franzosen oder Amerikaner nicht tun, obwohl sie es eigentlich auch tun müssten? Die Deutschen wollen so sein wie alle anderen, aber das geht nicht. Sie haben das auf dem Gewissen. Ein Gewissen hat man nur, wenn man Wissen hat und deswegen ist die Auseinandersetzung, das Wissen so wichtig für die Verantwortung. Der Grund für diese Haltung ist also Bequemlichkeit, die Konsequenz eine Katastrophe.

Man muss sich das mal überlegen: Es leben noch Holocaust-Überlebende und schon jetzt wagen es die Deutschen wieder antisemitische Gedanken zu hegen und diese auch tätlich umzusetzen - das ist unfassbar.

Ein weiteres Ergebnis der Umfrage war, dass 28 Prozent der Befragten mit hohem Bildungsgrad und hohem Jahreseinkommen finden, Juden hätten zu viel Macht in der Wirtschaft. 26 Prozent meinen, Juden hätten zu viel Macht über die Weltpolitik. Woher kommen solche Ansichten Ihrer Meinung nach?

Das sind Klischees, Vorurteile, Neid, aber auch Fakten. Juden sind erfolgreich. Wo ist das Problem? Warum sind die Deutschen nicht neidisch darauf, dass die Juden prozentual zum Rest der Weltbevölkerung sehr viel mehr Nobelpreisträger haben? Warum stört das niemanden? Warum geht es immer um den Aspekt "Geld"? Die intellektuelle Intelligenz wird im Judentum sehr gefördert und das bringt eben mit sich, dass Juden oft sehr erfolgreich sind. Sie arbeiten auch hart dafür, aber warum muss man sie deswegen nicht mögen? Man könnte es ihnen auch gönnen.

Nach dem Anschlag in Halle auf die Synagoge spricht die Politik wieder, wie schon in der Vergangenheit, vom "Kampf gegen den Antisemitismus". Kann man den Antisemitismus überhaupt bekämpfen?

Ja, das kann gehen, aber dafür müssten drei verschiedene Gruppen daran mitarbeiten. Da wäre zum einen die Erziehung auch durch die Kirche. Dort müsste das Feindbild des Juden als Mörder von Jesus behandelt werden. Es muss sich intensiv mit der Verantwortung der Deutschen in der Shoa auseinandergesetzt werden und der Dialog mit Juden in der Schule gesucht werden. Zum anderen wäre da das Rechtssystem in Deutschland. Da kann einiges nicht stimmen gerade im Hinblick auf die Aktivitäten von Rechtsextremen. Und dann wäre da noch die Presse. Sie schürt Anti-Israelismus durch eine tendenziöse und nicht-objektive Berichterstattung. Auch dadurch bekommt der Antisemitismus wieder Aufwind.

Ich glaube aber auch, dass man Antisemitismus nicht ausmerzen kann. Wir müssen stattdessen die positiven Kräfte fördern und Zivilcourage lehren - am besten von klein auf. Wir müssen lehren hinzuhören, wenn antisemitische Äußerungen gemacht werden, die schon Teil der Alltagssprache sind, und hinzuschauen, wenn jemand angegriffen, wird. Und wir müssen dazu erziehen einzugreifen – verbal oder durch die Alarmierung von Sicherheitskräften. Die schweigende Mehrheit muss aus ihrer Passivität und Indifferenz heraustreten und Zivilcourage zeigen. Das muss man aber erst lernen.

Yechiel Brukner ist seit 2018 Rabbiner der Kölner Synagogen-Gemeinde. Geboren in der Schweiz als Sohn eines Holocaust-Überlebenden, verband er in Montreux Talmud- und Pädagogik-Studium. Später zog er nach Israel, wo er an Religionsschulen unterrichtete. Seit 12 Jahren fördert er in Gemeinden in Deutschland die Stärkung der jüdischen Identität.

Das Interview führte Nastassja Shtrauchler