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Politik

Raketeneinschlag in Polen: Was die ukrainische Armee sagt

17. November 2022

Sind ukrainische Flugabwehrraketen in Polen eingeschlagen? Oder haben die angreifenden Russen ihre Taktik geändert? Ein DW-Interview mit dem Sprecher des Kommandos der ukrainischen Luftstreitkräfte, Jurij Ihnat.

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Einschlagskrater im polnischen Przewodow unter einem Traktor und einem umgekippten Anhänger
Einschlagskrater im polnischen PrzewodowBild: UGC via REUTERS

Am Dienstag trafen erneut massive russische Raketenangriffe die Ukraine. Nach Angaben der ukrainischen Armee wurden mehr als 90 Raketen und 12 Drohnen eingesetzt. Es sei gelungen, alle Drohnen und 77 Raketen abzuschießen, die restlichen seien vor allem in Anlagen der Energieinfrastruktur eingeschlagen. Während des Angriffs kam es auch zu einer Explosion im polnischen Dorf Przewodów nahe der ukrainischen Grenze, die zwei Menschenleben forderte. Warschau erklärte, dort sei eine in Russland hergestellte Rakete eingeschlagen, jedoch gebe es keine Beweise dafür, dass sie von Russland abgefeuert wurde. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zufolge wurde die Explosion wahrscheinlich durch ein Geschoss der ukrainischen Luftabwehr verursacht. Derzeit läuft eine Untersuchung. Oberst Jurij Ihnat, Sprecher des Kommandos der ukrainischen Luftstreitkräfte, erklärt im DW-Interview seine Sicht auf den Vorfall und erläutert, wie die ukrainische Raketenabwehr funktioniert.

DW: Herr Ihnat, während des russischen Beschusses gab es auch auf polnischem Territorium einen Einschlag. Es gibt widersprüchliche Informationen über die Herkunft der Geschosse. Kann es sich um ukrainische S-300-Flugabwehrraketen gehandelt haben?

Jurij Ihnat: An der Einschlagstelle wird eine sehr genaue Untersuchung durchgeführt. Erst danach wird man sagen können, um welche Raketen es sich gehandelt hat. Man kann jede Rakete ohne Probleme identifizieren. In der Ukraine tut man dies ständig bei Beschuss. Aber ich finde es seltsam, dass alle ihre Aufmerksamkeit auf den Vorfall in Polen richteten, weil es ein NATO-Land ist, während das gesamte Territorium der Ukraine angegriffen wurde. Das sind die Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Es gibt keine Garantie, dass andere Länder nicht betroffen sein werden. Vor zwei Wochen ist eine Rakete über der Republik Moldau niedergegangen. Damals flog eine russische Rakete durch moldauischen Luftraum und wurde von der ukrainischen Luftverteidigung über dem Territorium der Ukraine abgeschossen. Die Raketentrümmer fielen auf moldauisches Territorium. In Polen muss noch geklärt werden, was es war. Man muss die Ergebnisse der Untersuchung abwarten. Die ukrainischen Luftstreitkräfte werden von ihrer Seite jegliche Informationen bereitstellen.

Portrait von Jurij Ihnat, dem Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte
Jurij Ihnat, Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte, will Untersuchungen abwartenBild: DW

Ist die Ukraine an der Untersuchung des Vorfalls in Polen beteiligt?

Entsprechende Informationen liegen mir noch nicht vor. Die Untersuchung sollte von qualifizierten Fachleuten durchgeführt werden, die über die entsprechende Ausrüstung verfügen. Die Ukraine hat solche erfahrenen Spezialisten. Daher ist die Ukraine bereit, Expertenhilfe für eine unparteiische Untersuchung bereitzustellen.

In der Republik Moldau sind die Raketentrümmer sehr nahe an der ukrainischen Grenze niedergegangen. Das polnische Dorf Przewodów ist aber mehr als fünf Kilometer von der Grenze entfernt. Könnte eine ukrainische Rakete so weit geflogen sein?

Die Reichweite der Luftverteidigung beträgt 75 Kilometer. Man muss wissen, dass es sich nicht um neue Technik handelt, daher kann Verschiedenes passieren. Vorgesehen ist, dass sich Flugabwehrraketen der Systeme S-300 oder BUK-M-1 selbst zerstören, wenn sie ihr Ziel verlieren. Das muss man berücksichtigen. Wie es in Wirklichkeit war, muss geklärt werden.

Was tut die Ukraine, um sicherzustellen, dass Gebiete jenseits ihrer Westgrenze nicht versehentlich in Mitleidenschaft gezogen werden?

Wir werden alles abschießen, was auf uns zufliegt. Was sollen wir tun, wenn wir sehen, dass uns eine Rakete auf den Kopf fliegt? Wir werden sie abschießen, da gibt es keinen anderen Ausweg. Dafür tun die Luftstreitkräfte alles. Selbst eine Flugzeugrakete kann sich verirren. Aber das ist Krieg, und er hat seine Folgen.

Sollte sich bestätigen, dass es sich um russische Raketen handelt, könnte es dann Ihrer Meinung nach ein Versehen gewesen sein?

Von Russland hergestellte Raketen sind hochpräzise Waffen, die ihr Ziel um zehn bis 30 Meter verfehlen können. Man kann daher nicht von einem Versehen sprechen. Aber es kann zu einem Fehler kommen, durch den die Rakete vom Kurs abkommt und in die falsche Richtung fliegt. Es handelt sich um Technik, mit der alles passieren kann. Daher müssen wir die Ergebnisse der Untersuchung abwarten.

Karte von Polen und der Ukraine mit dem Ort Przewodow
Im Dorf Przewodów nahe der ukrainischen Grenze gab es eine Explosion

Hat sich die Taktik der Russen während dieses Raketenangriffs im Vergleich zu vorherigen irgendwie geändert?

Es hat sich überhaupt nichts geändert. Ein typischer heimtückischer Raketenangriff vor allem auf zivile Infrastruktur. Der Feind setzt keine hochpräzisen Waffen mehr gegen militärische Ziele ein, weil er weiß, dass er keinen Erfolg erzielen wird. Die Russische Föderation greift unsere Truppen nicht mit Kalibr-Raketen, X-101- und X-555-Raketen an, sondern setzt diese ein, um die Zivilbevölkerung anzugreifen. Einen Beschuss ähnlichen Ausmaßes gab es am 10. Oktober, als die Russische Föderation 84 Raketen abfeuerte, von denen 45 abgeschossen wurden. Am Tag darauf wurden 28 Raketen abgefeuert, von denen 20 abgeschossen wurden. All dies wurde von Shahed-136-Kamikaze-Drohnen begleitet. Dann gab es Beschuss am 13., 17., 18., 30. und 31. Oktober. Am letzten Tag im Oktober wurden 45 der 55 gestarteten Raketen abgeschossen. Das ist eine hohe Trefferquote.

Wodurch hat sich die Trefferquote verbessert?

Vor allem dank der Professionalität und Erfahrung des Personals, weil die meisten unserer Flugabwehrsysteme noch aus sowjetischer Produktion stammen. Es gibt auch neue Ansätze beim Einsatz von Waffen, bei der Aufklärung und Analyse von Informationen.

Ein wesentlicher Faktor ist die Bereitstellung von Waffen durch unsere westlichen Partner. Auch wenn es nicht viele sind, aber sie funktionieren. So wurden gestern mit zehn Raketen des NASAMS-Luftverteidigungssystems zehn Ziele in der Luft getroffen. Auch das System IRIS-T trifft bei Raketenangriffen fast zu 100 Prozent. Das gilt auch für die selbstfahrenden Flugabwehrgeschütze Gepard, Avenger und Aspide. Bald wird auch das HAWK-System eingesetzt. Es ist zwar veraltet, kann aber Marschflugkörper und Drohnen abschießen. Doch wir leiden immer noch unter einem katastrophalen Mangel an Luftverteidigungssystemen, weil die Ukraine ein großes Land ist. Wir können nur bestimmte Gebiete schützen und müssen ständig verlegen und manövrieren.

Welche Systeme braucht die Ukraine?

Wir hoffen auf zusätzliche IRIS-T-Systeme, aber wann sie eintreffen, ist nicht bekannt, da ihre Produktion noch läuft. Über das NASAMS-System verfügen 12 Länder. Daher könnten diese Länder meiner Meinung nach diese Systeme bereitstellen. Wir hoffen auch auf Patriot-Systeme.

Das Gespräch führte Oleksandr Kunyzkyj