Till Lindemann stellt Gedichtband in Russland vor
18. November 2016Das Gogol in Moskau ist erstmal kein Ort, an dem man eine Lesung von Rammstein-Sänger Till Lindemann vermuten würde. Das schick aufgemachte Theater im zentralen Moskau zeigt normalerweise zeitgenössische Stücke und moderne Ballettinszenierungen, keine Rock-Provokateure aus Deutschland, die mit pyrotechnikgeladenen Shows und inszeniertem Bühnen-Sex von sich reden machen.
Aber am Donnerstag war er da und das Schauspielerensemble vom Gogol-Theater wollte der Gedichtsammlung von Till Lindemann, "In stillen Nächten", eine eigene Performance widmen. Vage verhieß die Einladung ein bisschen Lesung, ein bisschen musikalische Begleitung. Wie Till Lindemanns Werk mit all seinen Tabubrüchen und Ausschweifungen in eine spielbare Hommage gegossen werden sollte, ohne die sensible russische Künstlerseele zu verletzen, blieb allerdings rätselhaft.
Der Eintritt in das Foyer des Gogol-Theaters trug erstmal nichts zur Klärung bei. Es schien für ein gewöhnliches Moskauer Medienevent herausgeputzt zu sein: Die gut angezogenen Besucher nippten an ihren Weingläsern und tauschten Neuigkeiten aus, während ein Musiker das Ganze mit akustischer Gitarre begleitete. Dokumentiert wurde das kulturelle Vorgeplänkel von dem üblichen Dutzend Pressefotografen.
Rammstein - "Botschafter deutscher Kultur"?
Von meiner ersten Rammstein-Erfahrung hätte sich diese Szenerie kaum deutlicher unterscheiden können. 2001 war ich junger Germanistik-Student und Rammstein war auf US-Tournee. Obwohl ich ein bekennender Metal-Fan war, war es schließlich der Anstoß meines damaligen Deutschlehrers, der mich zu ihrem Konzert brachte: "Du musst sie als Botschafter der deutschen Kultur sehen", meinte er.
Das Konzert fand in einer umgebauten Sportarena statt, tief im mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Rammstein waren zwar nicht die Aufmacher, aber die vielen Fans in schwarzen T-Shirts sprachen für sich. Genauso wie das Beben, das durch den Moshpit (vor der Bühne entstehender Kreis, in dem getanzt wird; Anm. der Redaktion) ging, als Till Lindemann mit feuerrotem Trenchcoat die Bühne betrat und die ersten Riffs des Rammstein-Sets in unseren Ohren dröhnten.
Zu meiner Überraschung war ich nicht der Einzige der mitschrie, als Rammstein aufspielte. Auch die anderen Fans legten sich ins Zeug, um die deutschen Verse mitzuschmettern. Die amerikanischen Metal-Heads hatten sich offensichtlich ebenfalls die Zeit genommen, die Texte auswendig zu lernen. Mit meiner Überraschung darüber war ich nicht alleine: Auch die Bandmitglieder waren sichtlich erstaunt, wie gut das amerikanische Publikum die deutschen Texte kannte.
Das Warten hat ein Ende
Während ich im Gogol-Theater auf den Einlass wartete, hörte ich eine Frau sagen: "Ich kenne Rammsteins Musik ja nicht, aber ich habe davon gehört. Das wird sicher spannend heute." Und dann ging es endlich los: Ein einfacher weißer Tisch auf einer schwarzen Bühne begrüßte uns, der Publikumssaal war voll und die Zuschauer empfingen Lindemann mit einem warmen Applaus, als er den Saal betrat und sich in die erste Reihe setzte. Würden also die Schauspieler Lindemanns Verse auf der Bühne aufführen? Und wie würden sie mit den teilweise expliziten Inhalten umgehen?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sieben Schauspieler in Abendgarderobe setzten sich an den Tisch und verwandelten die Verse aus dem Band "In stillen Nächten" bei einer ordinären Dinnerparty in eine Story aus Intrigen und Leidenschaften. Die drei Paare servierten die Zeilen von Till Lindeman als eine Kostprobe durch die menschlichen Begierden und Ängste, den Höhepunkt garniert mit einer gesunden Dosis Mord - ganz à la Rammstein.
Positive Rezeption
Die meisten von Lindemanns Zeilen können hier nicht abgedruckt werden und sind sicher auch nicht jedermanns Sache. Aber in Moskau begegneten sowohl das Publikum als auch die Schauspieler den Texten mit Respekt, als stammten sie aus einem Stück von Bertolt Brecht.
Während Till Lindemanns Alter Ego auf der Bühne vom Rest des Ensembles aufgespießt wurde, freute sich der Autor über die positive Resonanz: "Es ist wie ein Ritterschlag, wenn deine Kunst verstanden wird", ließ er durch seinen russischen Pressesprecher mitteilen. Nach einer knappen Verbeugung war er auch schon wieder weg, ohne auch nur einem der wartenden Journalisten ein Interview gegeben zu haben.
Als ich das Theater verließ, dachte ich darüber nach, ob man Lindemann wohl wirklich als "Botschafter deutscher Kultur" sehen könnte. Da überhörte ich eine junge Frau, die sagte: "Ich höre seine Musik seit ich elf Jahre alt bin. Heute, das war typisch Till. Man könnte wohl behaupten, dass ich mit ihm Deutsch gelernt habe." In Moskau zumindest hat er an diesem Abend ein wenig Botschafter sein können.
"In stillen Nächten" erschien auf Deutsch (2013) und Russisch (2016) in einer Erstauflage von 10.000 Exemplaren. Der Gedichtband enthält sowohl Texte als auch Zeichnungen. Wegen zum Teil derber Fomulierungen darf das Buch nach russischem Gesetz erst ab 18 Jahren gelesen werden. 2002 erschien in Deutschland Lindemanns erste Gedichtsammlung "Messer".