Schreiben gegen Rassismus
31. Mai 2022Die 42-jährige afrodeutsche Tupoka Ogette ist Bestsellerautorin und Deutschlands wohl bekannteste Trainerin in Sachen Rassismuskritik. Ihr Erstling "exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen" war 2017 ein Bestseller.
Und doch verfasste sie im Sommer 2020 nach der Ermordung George Floyds und den weltweiten Protesten folgenden wütenden Instagram-Post: "Ich erhalte dieser Tage Hunderte Presseanfragen. So wie alle meine Kolleg*innen. Die meisten beginnen mit 'Gibt es Rassismus in Deutschland, und was sind Ihre Rassismuserfahrungen?' No. I. AM. DONE. Wir hängen in Deutschland immer wieder in der gleichen elenden Endlosschleife. Ich wurde mit exakt diesen Fragen angerufen, nach Hanau, nach Chemnitz. Jedes verdammte Mal kommen die gleichen Fragen. Guess what: Es ist rassistisch zu fragen, ob es in Deutschland noch Rassismus gibt."
Mit diesem Frust ist Ogette nicht allein. Eine wachsende Zahl von Publikationen nimmt in den vergangenen Jahren den (Alltags-)Rassismus in Deutschland in den Fokus - und landet damit immer öfter auf den Bestseller-Listen. Wichtige erste Lektion: Rassismus fängt nicht erst bei Neo-Nazis an - und hört nicht bei ihnen auf.
Liebevoll und geduldig, wütend und entsetzt
Noah Sow, eine bayrische Künstlerin und Aktivistin, legte 2008 mit "Deutschland Schwarz Weiß" ein kritisches Buch über Alltagsrassismus vor, das zum Standardwerk für die Lehre und Diskussion über strukturellen Rassismus in Deutschland wurde. Das Buch ist 2018 zum 10-jährigen Jubiläum aktualisiert worden und geht dem Thema nicht nur hintergründig sondern auch sehr humorvoll auf die Spur, aber ohne den gewaltvollen Kern von Rassismus zu negieren oder zu verniedlichen: "Es geht bei Rassismus nicht um Diskriminierung etwa aufgrund von Verständigung oder 'fremder' Kultur. Schwarz heißt nicht gleich Migrant oder andersherum. Dass es auch nicht um 'Fremdsein' geht, wird dadurch deutlich, dass Schwarze Deutsche von diesen Diskriminierungen ebenso betroffen sind."
Unter den Autorinnen und Autoren der letzten Jahre finden sich viele Journalistinnen und Journalisten: Schon 2014 publizierte die aus Nürnberg stammende Anne Chebu das Buch "Anleitung zum Schwarzsein", das praktische Lebenshilfe (etwa im Umgang mit Blackfacing beim Karneval), aber auch Nachhilfestunden in afrodeutscher Geschichte gab.
2020 landete die Kölner Journalistin Alice Hasters mit "Was weiße Menschen über Rassismus nicht hören wollen aber wissen sollten" einen Bestseller. Sehr persönlich, verbindlich, aber auch ohne Wut und Frustration zu verbergen benennt sie die Fundstellen von Rassismus im Alltag: in der Sprache, der Schule, der Betrachtung des Körpers, in der Familie und ja, auch in der Liebe. In einem Brief an ihren imaginären weißen Freund heißt es: "Manchmal wirst du mich mit deiner Leichtigkeit anstecken. Manchmal werde ich wie du vergessen, dass du weiß bist und ich Schwarz. Ich werde deine Sorglosigkeit auf mich übertragen und dein Weißsein als Schutzschild annehmen. Mit dir an meiner Seite werde ich ernster genommen werden, mit dir kann ich mir sogar vorstellen, nach Russland zu reisen - oder in die sächsische Schweiz."
Wegbereiterin für afrodeutsches Bewusstsein: May Ayim
Rassismus, so könnte man zynisch sagen, hat weltweit eine lange Tradition. Rassismuskritik zum Glück auch. Im Nachkriegsdeutschland ist dies unter anderem der Autorin und Poetin May Ayim zu verdanken. 1960 in Hamburg geboren und in Münster aufgewachsen, fand Ayim nach dem Studium in Berlin ein neues Zuhause. Hier gründete sie mit anderen Aktivistinnen, etwa der Historikerin und Dichterin Katherina Oguntoye, die "Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland" (ISD), die bis heute als Interessensvertretung Schwarzer in Deutschland landesweit aktiv ist.
Im Buch "Farbe bekennen", das Ayim und Oguntoye gemeinsam mit der Feministin Dagmar Schultz herausgaben, wird afrodeutsch als Begriff eingebracht und wurde im Nachgang auch von der Community aufgegriffen. Identitätsbildung, Geschichtsbewusstsein und Erfahrungsaustausch schafften seit den 1980er Jahren verschiedene Plattformen und Formate, in denen sich afrodeutsche Menschen in Deutschland vernetzten.
On- und offline Aktivismus für mehr rassismuskritisches Bewusstsein
Nicht nur Publikationen, auch der Aktivismus über soziale Netzwerke ist ein zentraler Bestandteil im Kampf für mehr Wahrnehmung rassistischer Strukturen und Mechanismen. Aminata Belli ist eine weitere zentrale Akteurin in Deutschland; die aus Schleswig-Holstein stammende Moderatorin, Modereporterin und Influencerin macht sich für die Black Community in Deutschland stark. Und repräsentiert sie, etwa als Gesicht für eine bekannte Kosmetik-Marke.
Eine Vielzahl von Podcasts wie etwa "Feuer & Brot" von Alice Hasters und Maximiliane Häcke, "Halbe Katoffl" mit dem Berliner Journalist Frank Joung oder "Tupodcast" von Tupoka Ogette thematisieren Rassismus mal zentral, mal beiläufig. Immer finden hier Perspektiven statt, die in vielen deutschen Medien gerne mal zu kurz kommen. Dabei sind es Themen von einem bedeutenden Anteil der deutschen Bevölkerung, haben doch über 25 Prozent hierzulande eine Migrationsgeschichte.
Literatur und Politik
Für viel Aufmerksamkeit sorgt das Wirken der britisch-deutschen Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo. Ihre literarischen Arbeiten haben viel hintergründigen Witz, Esprit - und Gefühl für versteckten Rassismus. Ihr erster Roman "Adas Raum" ist 2021 erschienen und erzählt die Geschichten verschiedener Frauen über Jahrhunderte, Kontinente und Erzählkonventionen hinweg. Sie macht sich auf vielen Ebenen gegen Rassismus stark.
Man könnte schon meinen, 2021 sei das Jahr der schwarzen Frauen in Deutschland. Immerhin zog die erste schwarze Bundestagsabgeordnete Awet Tesfaiesus ins deutsche Parlament ein. Bliebe da nicht der bittere Nachgeschmack, dass 2021 dafür ein wenig spät erscheint. Eine weitere wichtige Stimme ist die Politikerin Aminata Touré. Als Vize-Präsidentin des schleswig-holsteinischen Parlaments hat die 29-Jährige 2021 ein Buch über ihre Familiengeschichte vorgelegt. Sie ist die erste afrodeutsche sowie jüngste Vizepräsidentin eines deutschen Landtags.
Der lange Weg zu weniger Rassismus
Tupoka Ogettes neues Buch "Und jetzt du. Rassismuskritisch leben” ist im März 2022 beim Penguin Verlag erschienen. Darin blickt Ogette auf ein paar Jahre antirassistischer Trainings und Teachings zurück, verzeichnet Positives, aber auch viele Leerstellen. Ogette möchte Antworten geben auf die Frage, was zu tun ist.
Wichtigste Schlussfolgerung ist, dass Rassismus ein Thema für alle ist, nicht nur derer, die unter ihm zu leiden haben. Und dass eine Bearbeitung auf struktureller, institutioneller aber auch auf individueller Ebene stattfinden muss. Was jeder und jede einzelne sowie die Institutionen tun können, dazu gibt Ogette im Buch viele Impulse. Grundlegend bleibt: Weiße Menschen müssen die Wahl treffen, sich ihre Rassismen anzusehen - und zu ändern.
Thementag Diversität: Im deutschen TV-Programm dreht sich am Dienstag, 31. Mai 2022, ab 08:00 UTC alles um das Thema "Diversität".