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Rassismus und Antisemitismus: mehr Gewalt, mehr Bewusstsein

27. Juni 2023

Zwei neue Studien zeigen: Nicht nur Judenhass, auch Diskriminierungen verschiedenster Art sind noch immer weit verbreitet in Deutschland. Gleichzeitig wächst aber auch das Bewusstsein.

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Einschusslöcher sind auf einer verglasten Tür zu sehen. Sie wurden am Rabbinerhaus bei der Alten Synagoge in Essen entdeckt.
Zeichen antisemitischer Gewalt: Einschusslöcher an der Tür der Alten Synagoge in EssenBild: Justin Brosch/ANC-NEWS/dpa/picture alliance

Extreme Gewalt - das ist, wenn in Berlin zwei Männer mit Baseballschlägern und Messern angegriffen werden, weil sie "Free Israel" gerufen haben sollen. Extreme Gewalt, so definiert es der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS), sind "physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können sowie schwere Körperverletzungen, aber auch den bloßen Versuch solcher Taten." Neun Fälle extremer Gewalt listet RIAS in seinem neuen Jahresbericht "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2022" auf. So viele waren es noch nie, seit RIAS 2017 mit der Dokumentation antisemitischer Vorfälle begann. "Solche Anschläge wie die extremer Gewalt haben auch eine Strahlkraft in Regionen, die nicht direkt mit dem Vorfall in Berührung gekommen sind, da sie das Sicherheitsgefühl von Juden und Jüdinnen enorm trüben können", sagt Bianca Loy, Co-Autorin der Studie der DW.

Es ist das erste Mal, dass die zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle einen gebündelten Bericht ihrer Meldestellen in elf Bundesländern herausbringt und so ein bundesweites Bild zeichnen kann. Auch wenn die extreme Gewalt zugenommen hat: Insgesamt ist laut dem RIAS-Bericht die Anzahl antisemitischer Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken. Das liegt laut RIAS-Bericht vor allem daran, dass es im Jahr 2022 keine Ereignisse gab, die den Rahmen für antisemitische Vorfälle bildeten, wie etwa der Konflikt zwischen der Hamas im Gaza-Streifen und der israelischen Armee im Mai 2021. Auch die Corona-Pandemie, die den Nährboden für antisemitische Verschwörungstheorien bildete, spielte 2022 nicht mehr so eine große Rolle in der Öffentlichkeit. In beiden Fällen - Pandemie und Konflikt - kam es im Jahr 2021 noch zu antisemitischen Entgleisungen auf Demonstrationen und zu Holocaust-Relativierungen. 

Als Fälle extremer Gewalt wertet RIAS auch mehrere versuchte und tatsächliche Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen (NRW) im November 2022, bei denen aber niemand verletzt wurde, darunter ein Anschlag auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen.

Bedrohung durch den Iran?

Inzwischen ist bekannt, dass die Generalbundesanwaltschaft in den antisemitischen Vorfällen in NRW gegen zahlreiche Personen ermittelt, die mit der Islamischen Republik Iran in Verbindung stehen sollen. "Es ist erschreckend, dass diese drei kurz aufeinander folgenden Anschläge nicht für breitere Aufmerksamkeit gesorgt haben", sagt Co-Autorin Loy. "In den jüdischen Gemeinden ist die Gefahr aber sehr präsent. Und wenn dann nicht einmal ein Aufschrei in der Gesellschaft erfolgt, trägt das zur Verunsicherung bei." Die Bedrohung durch den Iran sei ernst zunehmen, da das Regime über Ressourcen verfüge, in Deutschland Anschläge zu verüben und die Staatsideologie sehr stark antisemitisch sei, warnt Loy.

Neben den Fällen extremer Gewalt stellt der RIAS-Bericht auch fest, dass antisemitische Vorfälle weiterhin auch den Alltag der Betroffenen prägten. Sie kommen häufig an Orten vor, die "Betroffene regelmäßig aufsuchen oder die diese in ihrem Alltag gar nicht meiden können."

Zwar kann RIAS durch eine gesteigerte Bekanntheit und mehr Bewusstsein inzwischen viele Fälle erfassen. Dennoch geht die Organisation noch immer von einem sehr großen Dunkelfeld aus.

Mehrere Diskriminierungen gleichzeitig

Explizit erfasst der RIAS-Bericht in diesem Jahr die Überlappung mit anderen Diskriminierungen. Dazu zählt, wenn beispielsweise eine Frau nicht nur antisemitisch, sondern zusätzlich auch noch sexistisch beleidigt wird. Oder wenn im Zuge des Ukraine-Kriegs nicht nur antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet werden, sondern Ukrainer auch rassistisch herabgesetzt werden. "Wir fanden das lohnenswert, das zu erheben und zu berichten, denn Antisemitismus ist kein isoliertes Phänomen. Das tritt häufig mit anderen Diskriminierungsformen auf", sagt Loy von RIAS.

Für den Kampf gegen Diskriminierungen ist in Deutschland unter anderem die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) zuständig. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist geregelt, dass man in Deutschland nicht aus rassistischen Gründen, wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung zum Beispiel am Arbeitsplatz diskriminiert werden darf. Hat man eine Diskriminierung erlebt, kann man sich an die Antidiskriminierungsstelle wenden. Das haben im vergangenen Jahr so viele Bürger und Bürgerinnen getan wie nie zuvor. Insgesamt 8.827 Beratungsanfragen zu Diskriminierung gingen bei der ADS ein. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Anfragen damit um 14 Prozent gestiegen, verglichen mit 2019 haben sie sich verdoppelt. Das geht aus dem Jahresbericht 2022 der ADS hervor.

Mit einem Anteil von 43 Prozent der Anfragen berichteten Menschen am häufigsten über rassistische Diskriminierung. 27 Prozent der Fälle bezogen sich auf Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung. 21 Prozent der Anfragen kamen zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts. Die meisten Ratsuchenden erlebten Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt (27 Prozent). 20 Prozent der Menschen wurden bei sogenannten Alltagsgeschäften diskriminiert, zum Beispiel bei der Wohnungssuche, aber auch beim Restaurantbesuch, beim Einkaufen oder in Bus und Bahn. Arbeitsmarkt und Alltagsgeschäfte sind die Bereiche, in denen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gilt und Diskriminierung verbietet.

"Immer mehr Menschen nehmen Diskriminierung nicht hin – das ist ein wichtiges Zeichen gesellschaftlicher Reife", sagt die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman. Dass Menschen den Mut hätten, über Diskriminierung zu sprechen und sich Hilfe zu holen, verdiene Anerkennung. Und es zeige, dass das Bewusstsein für Antidiskriminierung in der Bevölkerung wachse.