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Musik

"Raubmusik": Wie geht man damit um?

Matthias Beckonert
26. Oktober 2020

Die Folgen des Kolonialismus sind bis heute spürbar - zum Beispiel in so genannter Raubmusik. Nur: Wann kann man bei Musik eigentlich von Raub reden?

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Boney M. | Musikband
Bild: Hardy Schiffler/jazzarchiv/picture-alliance

Geraubte Statuen, Sarkophage oder Malereien: Seit längerem wird in Deutschland über die Rückgabe von kolonialer Raubkunst diskutiert. Ganze Ausstellungen zeigen solche Objekte, die aus anderen Kulturkreisen und oft mit gewaltsamen Mitteln entwendet wurden, um hier in ethnologischen Museen ausgestellt zu werden - und immer wieder machen Wissenschaftler oder Aktivisten darauf aufmerksam. Neu hingegen ist die Beschäftigung mit geraubter Musik.

Das ist zunächst einmal wenig verwunderlich, irritiert der Begriff der "Raubmusik" doch auf den ersten Blick: Im Gegensatz zu einem Gemälde, das man abhängen, nach Europa fliegen und dort wieder ausstellen könnte, ist die Materialität von Musik sehr flüchtig. Sind die wie auch immer organisierten Töne und Geräusche verklungen, ist auch die Materialität der Musik verflogen. Darum gehe es aber auch gar nicht, meint Sandeep Bhagwati. Der Musikwissenschaftler und Komponist hat den Begriff der Raubmusik in Deutschland entscheidend geprägt und versteht darunter weniger einen materiellen Raub - etwa Klangarchive mit Aufnahmen aus ehemaligen Kolonialgebieten - als vielmehr einen bis heute anhaltenden "kolonialen Gestus" westlicher Musik.

Was bedeutet Raubmusik?

"Nehmen wir an", verdeutlicht Bhagwati an einem Beispiel, "ein Komponist reist für ganze drei Wochen irgendwo hin und schreibt dann eine Komposition, die Elemente der Musik verwendet, die er dort gehört hat. Dann streicht er nicht nur das Geld dafür ein, sondern erhöht damit auch seinen gesellschaftlichen Status." Gerade in der sogenannten Weltmusik finde man das sehr häufig. Das Problem daran sei nicht nur die nicht gekennzeichnete Übernahme fremder Schöpfungen, sondern auch das Herausreißen der Musik aus ihrem geistigen oder gesellschaftlichen Kontext. "Oft nur für den exotischen Kitzel", wie Bhagwati beklagt.

Sandeep Bhagwati
Musikwissenschaftler Sandeep BhagwatiBild: Robert Del Tredici

Solche Formen der "Exotisierung" haben im Westen mindestens eine genauso lange Geschichte wie die Globalisierung selbst. Schon bei Mozart, Beethoven oder Debussy zeigt sich, dass fremde Kontinente und Kulturen Sehnsuchts- und Projektionsflächen geboten haben. Das gilt gleichermaßen in der Literatur, der bildenden Kunst und eben auch der Musik - häufig mit einem hegemonialen westlichen Hintergedanken. Bezogen auf die Musik, bedeutet das bis heute: Noch immer gelte westliche Musik als das Nonplusultra, kristisiert Bhagwati. Man spreche von ihr als "die Musik", Elemente anderer Musiken kämen darin lediglich als "Spezialeffekte" vor, wie Bhagwati es nennt, und würden zudem primitiv dargestellt.

Raubmusik: Rechtlich ein sehr komplexes Thema

Nun birgt die Diskussion über Raubmusik trotzdem Schwierigkeiten. Künste, wie die Musik, leben ganz zentral von Vorbildern, Inspiration, der Bezugnahme auf ein kanonisiertes System aus Motiven und Zeichen. Wie unterscheidet man, gerade in der Musik, über die Frage, was noch Inspiration und was schon Plagiat ist?

Deutschland Hamburg | Raubmusik | Heiko Maus
Heiko Maus kennt sich mit dem Thema Raubmusik bestens aus Bild: Timo Maus

Heiko Maus ist Musikgutachter und hat diese Frage in seinem beruflichen Alltag tagtäglich zu beantworten. Es gebe dafür keine einfache Faustformel, sagt er. "Man darf sich natürlich inspirieren lassen. Nur darf das Werk nicht mehr durchscheinen und muss im Hintergrund verblassen, wie es in der Literatur häufig heißt." Wann dieses Kriterium der geistigen Eigenkreation aber erfüllt ist, muss individuell anhand von verschiedenen Kriterien geklärt werden. Die Absicht und auch das Herausnehmen aus dem eigentlichen Kontext sind dabei erst einmal egal.

Das zeigt zum Beispiel ein bekannter Urheberrechtsstreit, den Maus zitiert: Das Lied "Brown Girl in the Ring" von Boney M. wurde 1978 aufgenommen und schnell zum Welthit. Ursprünglich entstammt es einem karibischen Kinderlied, das der deutsche Komponist Peter Herbolzheimer für den karibischen Musiker Malcolm Magaron aus St. Lucia 1974 arrangierte. Als nun wiederum Boney M.-Produzent Frank Farian dieses Lied kennenlernte und vier Jahre später mit seiner Version viel Erfolg hatte, kam es zu einem spektakulären Urheberrechtstreit, der sich über 20 Jahre hinzog.

Exotisierung anderer Kulturen bis heute

Der Fall verdeutlicht nicht nur, wie komplex die Klärung der Frage im Einzelfall ist, er zeigt auch, dass die Rechtsprechung das Herausnehmen aus dem ursprünglichen Kontext gar nicht miteinbezieht. So kommt es zur mehrfachen Exotisierung: Das Cover eines karibischen Kinderlieds wurde von einem deutschen Produzenten mit europäischen Disco-Beats zum massentauglichen Hit umfunktioniert, der wiederum von den "exotisch" angezogenen Sängerinnen und Sänger von Boney M. auf Bühnen vor meist westlichem Publikum aufgeführt wurde. Und zwei Deutsche streiten sich vor Gericht um die Rechte, das heißt um die Tantiemen an dem Lied.

"Früher dachte man, man nimmt sich einfach etwas aus der so genannten Dritten Welt, da kräht eh kein Hahn danach", kritisiert auch Musikgutachter Heiko Maus. "Das bekomme keiner mit und wenn, dann haben die sowieso keine Chance", sei der Grundgedanke dahinter gewesen. 

Aktive Dekolonialisierung gefordert

Der Komponist und Musikwissenschaftler Sandeep Bhagwati fordert deshalb eine aktive Dekolonialisierung der Musik durch alle Beteiligten, durch Produzenten, Musiker und Publikum. Das gehe zunächst nur über ehrliches Interesse, über die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Musik und des Künstlers. Auch dann, wenn die Musik sich von westlichen Konventionen unterscheide. "Gegenseitiges Missverstehen auf kreative Weise", nennt Bhagwati das. "Wenn man andere Musiken benutzt, um selber kreative Wege zu entwickeln, dann entspricht das den normalen Wegen der Kunst."

Gleichzeitig müsse es aber auch in Europa ein klares Umdenken geben: "Wir als Gesellschaft haben insgesamt ein Defizit, wenn wir vermuten, dass andere Kulturen weniger komplex, differenziert, reich sind in ihren kulturellen Äußerungen sind als wir", sagt Bhagwati. Und ein guter Weg sei die verstärkte und vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit anderen Kulturen - in Programmheften, Biografien oder beim gemeinsamen Musizieren.