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Rechtspopulist Javier Milei neuer Präsident in Argentinien

20. November 2023

Der selbsternannte Anarchokapitalist Javier Milei gewinnt die Präsidentschaftswahlen. Auf Argentinien wartet nun ein Experiment mit ungewissem Ausgang.

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Lächelnder Mann im Anzug vor Mikrophonen winkt
Argentiniens Wahlsieger Javier Milei während seiner SiegesredeBild: Natacha Pisarenko/AP Photo/picture alliance

Am Ende konnte nicht einmal Taylor Swift seinen Sieg verhindern. Drei Mal war der US-amerikanische Popstar vor kurzem in Buenos Aires aufgetreten, ihre argentinischen Fans hatten eine riesige Kampagne unter dem Motto "Swifties wählen nicht Milei" losgetreten. Die jungen, vor allem weiblichen Anhängerinnen wiederholten gebetsmühlenartig in den sozialen Medien, wie sich Swift gegen Donald Trump mit dem Ausspruch "Wir müssen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen" positionierte.

Jetzt war der ehemalige und vielleicht künftige US-Präsident einer der Ersten, der Javier Milei nach seinem Sieg gegen Sergio Massa in der Stichwahl um das Präsidentenamt gratulierte: "Ich bin sehr stolz auf Sie. Sie werden Ihr Land umkrempeln und Argentinien wirklich wieder groß machen!"

Doch der 53-jährige selbsternannte Anarchokapitalist will sich mit einem Umkrempeln nicht begnügen, um das "Ende des Niedergangs Argentiniens" einzuläuten und das Land mit "einem Modell der Freiheit" wieder zu einer "Weltmacht" zu machen. "El loco", "Der Verrückte", so sein Spitzname aus Jugendjahren, rückt gleich mit einer Kettensäge an, die er lange Zeit auch in seinem Wahlkampf als Symbol benutzte, um das wirtschaftlich am Boden liegende Land mit einer Inflation von mehr als 140 Prozent und 44 Milliarden US-Dollar Schulden beim Internationalen Währungsfonds einer neoliberalen Schocktherapie mitsamt Massenprivatisierungen zu unterziehen.

Unterstützer von Javier Milei
Begeisterte Anhänger von Javier Milei in Buenos AiresBild: Luis Robayo/AFP/Getty Images

Milei will den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen statt des argentinischen Peso, den er als "Exkrement der politischen Klasse" bezeichnete. Er will die Zentralbank abschaffen, deren Styroporversion seine Anhänger mit wachsender Begeisterung in die Luft jagten. Und er will den Staat, eine in seinen Augen "kriminelle Organisation", mit nur noch acht statt 18 Ministerien auf ein Minimum zurechtstutzen und öffentliche Ausgaben radikal kürzen.

Argentinier ermüdet von der Wirtschaftskrise 

Der politische Outsider, den bis vor zwei Jahren fast niemand in Argentinien kannte, traf bei den 35 Millionen Wahlberechtigten einen Nerv und gewann in 23 der 26 Provinzen gegen den amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa. Ein Erdrutschsieg. Dass er Massa im TV-Duell vor der Wahl hoffnungslos unterlegen war, spielte dann auch keine Rolle mehr, im Gegenteil. Es bestärkte viele seiner Wähler darin, einer von ihnen zu sein, ohne die üblichen Phrasen der Politiker zu dreschen.

Zu groß war die Wut gegen die regierende peronistische Partei, welche 16 der letzten 20 Jahre regierte und den wirtschaftlichen Fall nicht stoppen konnte. Zu groß die Verachtung der "parasitären und nutzlosen Kaste", wie Milei immer wieder gegen "die da oben" und das durch Korruptionsskandale auffallende "Establishment" wetterte. Und zu groß die Hoffnungslosigkeit in einem Land, das bis Anfang der 1950er Jahre pro Kopf eines der reichsten Länder der Welt war und wo jetzt 40 Prozent der Bevölkerung in Armut leben.

Die Stichwahl war vor allem eine Abrechnung und Protestwahl frei nach dem Motto: "Schlimmer kann es sowieso nicht werden." Insbesondere bei den männlichen Jungwählern, die nichts anderes als Krise kennen, wird Milei, der frühere Sänger einer Rolling-Stones-Coverband, wie ein Popstar verehrt.

Ähnlich wie Jair Bolsonaro in Brasilien setzte er erfolgreich auf einen Wahlkampf in den sozialen Medien, orchestriert von seiner Schwester Karina, die Tarotkarten legt und vor zwei Jahren noch Kuchen auf Instagram verkaufte. Und auf maximale Polarisierung in einem Land, das nur noch bei Lionel Messi und der argentinischen Fußball-Nationalmannschaft vereint ist.

Milei rüttelt an der Aufarbeitung der Militärdiktatur

Die Spaltung dürfte eher noch zunehmen, denn Milei hat auch vor, Argentinien gesellschaftspolitisch um Jahrzehnte zurückzudrehen. Milei fordert ein striktes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen, hält den Klimawandel für eine "sozialistische Lüge" und brachte sogar den freien Zugang für Schusswaffen ins Spiel, was er kurz vor der Stichwahl aber wieder einkassierte. Vor allem aber zweifelt der künftige Präsident Argentiniens die Zahl von 30.000 Verschwundenen während der argentinischen Militärdiktatur an.

Seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villaruel spricht immer wieder von lediglich 8751 Opfern und relativiert in ihrer Theorie der "zwei Teufel", auch durch Terrorismus von links habe es zahlreiche Opfer gegeben. Das 17 Hektar große Gelände des größten Folterzentrums von damals und Gedenkstätte und UNESCO-Weltkulturerbe von heute, die Marineschule ESMA in Buenos Aires, solle doch besser für den Bau von Schulen benutzt werden, die Argentinien so dringend benötige.

ESMA in Buenos Aires
Eingang der "Escuela de Mecánica de la Armada" in Buenos AiresBild: Albano García/MSME

Die Reaktionen in den südamerikanischen Ländern auf den Wahlsieg Mileis sind ein Fingerzeig, dass Argentinien sich auch außenpolitisch isolieren könnte. Der brasilianische Präsident Lula, den Milei im Wahlkampf als Kommunisten beschimpft hatte, gratulierte pflichtschuldig, ohne seinen Namen zu erwähnen. Kolumbiens linker Präsident Gustavo Petro bezeichnete den Sieg der "extremen Rechten" in Argentinien als "traurig für Lateinamerika".

Besorgnis nicht nur in Südamerika

Und auch bei dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur, dem neben Argentinien und Brasilien noch Paraguay und Uruguay angehören, dürfte sich die Begeisterung ob Mileis Wahlsieg in Grenzen halten: Denn dieser hatte angekündigt, dass Argentinien "einen eigenen Weg gehen" werde. Auch Deutschland und vor allem die EU dürften Argentiniens Entwicklung daher mit Argusaugen verfolgen. Der seit Jahrzehnten geplante Freihandelsvertrag zwischen Mercosur und Europäischer Union ist mit Milei alles andere als einfacher geworden.

Ringen um größte Freihandelszone der Welt

Auf den Mann, der sogar den Papst als "lausigen Linken" titulierte, um sich später bei seinem Landsmann in Rom zu entschuldigen, warten allerdings einige politische Hürden für seine radikale Agenda. Der Zentralbank fehlen schlichtweg die US-Dollar für eine an sich schon komplizierte Dollarisierung, die traditionell starken Gewerkschaften werden Sparpläne mit wochenlangen Streiks beantworten, und mit weniger als 20 Prozent in der Abgeordnetenkammer und ein wenig mehr als zehn Prozent bei den Senatoren hat noch nie ein Präsident seit 1983 so wenig Unterstützung im argentinischen Kongress besessen.

Und so ist schon jetzt mehr als fraglich, als was Javier Milei später einmal in die argentinische Geschichte eingehen wird. "Wissen Sie, was der Unterschied zwischen einem Genie und einem Verrückten ist?", fragte er jüngst, seine Antwort lautete postwendend: "Der Erfolg".

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur