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PolitikNahost

Reformen in Saudi-Arabien: Wandel oder Propaganda?

Cathrin Schaer kk
1. Juli 2021

In Saudi-Arabien beschleunigt sich das Reformtempo. Doch worum es den Herrschern wirklich geht, scheint offen. Kritiker fürchten, es könnte sich um pure Propaganda halten. Klar ist: Die Machtstrukturen ändern sich nicht.

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Saudi Arabien | Kronenprinz Mohammed bin Salman
Werben für die Zukunft: Plakat zur "Vision 2030", Dschidda 2019Bild: Amr Nabil/AP Photo/picture alliance

Vor drei Jahren waren sie verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Doch kürzlich sind die Menschenrechtlerinnen Samar Badawi und Nassima al-Sadah offenbar aus dem Gefängnis entlassen worden, so die saudische Menschenrechtsorganisation ALQST auf Twitter.

Die beiden hatten sich zuvor für Frauenrechte im saudischen Königreich eingesetzt, insbesondere für das Recht der Frauen, Auto zu fahren. Dieses Recht wurde den Bürgerinnen des Königreichs erst 2018 zugestanden. Für Samar Badawi - die Schwester des zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilten Bloggers Raif Badawi - und Nassima al-Sadah änderte das nichts: Sie mussten ihre Haftstrafe antreten.

Die vorzeitige Entlassung der beiden fällt in zeitliche Nähe zu weiteren Reformen der Frauenrechte, die die saudischen Behörden Anfang Juni verkündet hatten. So dürfen Frauen nun in einer eigenen Wohnung leben. Sie sind dafür nicht mehr auf die Zustimmung eines männlichen Vormunds angewiesen.

Einige Tage später erklärten die Behörden, dass Frauen, die sich zur Pilgerfahrt nach Mekka registrieren lassen wollten, dies nun erstmals ebenfalls ohne Zustimmung eines männlichen Verwandten tun könnten. Wenn sie wollten, könnten sie stattdessen mit anderen weiblichen Pilgern reisen.

Saudi Arabien | Fahrerlaubnis für Frauen
Neue Freiheiten: In Saudi-Arabien dürfen Frauen erst seit wenigen Jahren Auto fahrenBild: The Yomiuri Shimbun/AP Images/picture alliance

Leiserer Gebetsruf

In der vergangenen Woche erklärte die Generalkommission für audiovisuelle Medien (GCAM) zudem, die Prüfverfahren für importierte Bücher und Zeitschriften würden vereinfacht. Die Zensurmechanismen der saudischen Behörden zählen zu den strengsten der Region. Die neuen Verfahren würden weniger Zensur und mehr Zugang zu Büchern in dem Golfstaat bedeuten, erklärten Beamte der GCAM gegenüber der Zeitung "Saudi Gazette".

Bereits Ende Mai hatte das Ministerium für islamische Angelegenheiten des Landes verfügt, dass die Lautsprecher der Moscheen beim Gebetsruf nur noch auf etwa ein Drittel ihrer üblichen Lautstärke aufgedreht werden dürften. Dieser hoch symbolische Schritt war in der konservativen Monarchie, in der die religiöse Praxis oft Vorrang vor anderen Aspekten des Lebens hat, besonders umstritten.

Zwar hatte es Ansätze zu gesellschaftlicher Veränderung bereits unter dem bis 2015 regierenden König Abdullah bin Abdulaziz Al Saud gegeben. Doch die nun angestoßenen Reformen gehen mehrheitlich auf das Konto von Kronprinz Mohammed bin Salman. Der hatte 2016 die sogenannte "Vision 2030" vorgestellt, eine Reihe sozioökonomischer Reformen, die das Land moderner, liberaler sowie wirtschafts- und tourismusfreundlicher machen sollen.

Weitere bedeutende Änderungen seit 2016 waren die Aufhebung eines jahrzehntelang geltenden Verbots von Kinos und eine Gesetzesreform, die Frauen erlaubt, allein zu reisen. Auch die Regeln zur Geschlechtertrennung wurden schrittweise gelockert. Es gab sogar Gerüchte, dass der in Saudi-Arabien bislang verbotene Alkoholgenuss absehbar in begrenztem Umfang erlaubt sein soll.

"Schwindelerregendes Tempo"

Das Tempo der Reformen sei "schwindelerregend", sagt Robert Mogielnicki, Forscher am Arab Gulf States Institute in Washington. "Die politischen Entscheidungsträger drücken offenbar auf die Tube", so Mogelniecki.

Es liege auf der Hand, dass es einige sichtbare Fortschritte bei der Vision 2030 geben müsse, so Mogielnicki. "Der Kronprinz und die politischen Entscheidungsträger versuchen offenbar, eine Balance zwischen langfristigen Zielen und greifbaren Fortschritten vor Ort zu finden. Viele dieser jüngsten Veränderungen zeigen unmittelbare Wirkung."

Die Reformen erhielten insbesondere Unterstützung von jüngeren Bürgern, sagt Mogielnicki. Fast zwei Drittel der saudischen Bürger sind unter 35 Jahre alt.

Saudi Arabien | Kino
Nach jahrzehntelangem Verbot: Geladene Besucher einer Kinovorstellung in Riad, 2018 Bild: Amr Nabil/AP Photo/picture alliance

Weitere Zentralisierung der Macht

Offen sei derzeit, in welche grundsätzliche Richtung die Reformen liefen, sagt der Politikwissenschaftler Nathan Brown, Forscher am Nahost-Programm der Carnegie-Stiftung. "Insgesamt habe ich den Eindruck, sie sind Teil einer grundsätzlichen Liberalisierung in einigen sozialen Bereichen - wenn auch nicht in politischen Bereichen. Einige der Veränderungen sind im täglichen Leben von Bedeutung und sollten nicht heruntergespielt werden. Aber es sind keine strukturellen Veränderungen."

"Soziale Liberalisierung und politische Liberalisierung gehen nicht Hand in Hand", schreibt Brown in einem Artikel der Carnegie-Stiftung. Tatsächlich sei das Gegenteil eingetreten: Viele Änderungen liefen auf eine Umschichtung von Personal, Verfahren, Bürokratie und Gesetzgebung hinaus, nicht aber auf eine grundlegende Reform. Zu bedenken sei auch, dass viele der jüngsten Änderungen auch wieder rückgängig gemacht werden können.

Sicher sei hingegen, dass die Reformen eine weitere Zentralisierung der Macht in den Händen der saudischen Königsfamilie bezweckten. Tatsächlich hegen Regimekritiker den Verdacht , die Reform der Machtstrukturen, die Schaffung neuer Kommissionen und Ämter sowie das hohe Tempo der Veränderungen seien für Mohammed bin Salman nur ein weiterer Weg, Macht anzuhäufen und sich die Loyalität des Beamtenapparats zu sichern. Vielen Kritikern gilt der Kronprinz seit der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat seines Landes in Istanbul 2018 als Politkrimineller.

Saudi-Arabien Kronprinz Mohammed bin Salman
Reformen mit welchem Ziel? Der saudische Kronprinz Mohammed bin SalmanBild: picture-alliance/abaca/Balkis Press

Ende des Wahhabismus?

Immer wieder taucht in der Diskussion um die Reformen das Argument auf, diese schwächten die Macht der klerikalen Elite Saudi-Arabiens und entzögen dem Land sein religiöses Fundament. Tatsächlich haben die Reformen den traditionell starken Einfluss des Wahhabismus, der einer besonders strengen Auslegung des Korans huldigt, zumindest im Ansatz untergraben.

So wurde etwa die Macht der früher gefürchteten Religionspolizei beschränkt. Bis vor einigen Jahren patrouillierte sie auf den Straßen und fahndete nach Einheimischen, die nicht den Vorschriften entsprechend gekleidet waren. Außerdem sorgte sie dafür, dass Restaurants und Geschäfte während der Gebetszeiten geschlossen blieben. Doch diese Zeiten scheinen vorbei.

Trotzdem könne man noch nicht davon ausgehen, dass der Wahhabismus überwunden sei, sagt Brown. "Allerdings wird er nicht mehr so betont wie früher. Auch spielt die Religion in der saudischen nationalen Identität nicht mehr die gleiche Rolle wie früher."

Saudi Arabien | Kronenprinz Mohammed bin Salman
Blut an den Händen: Ein als Mohammed bin Salman verkleideter Demonstrant in Iistanbul nach der Ermordung Jamal Khashoggis 2018Bild: Depo Photos/abaca/picture alliance

Nur Propaganda?

Eines hat sich ungeachtet aller Reformen jedoch nicht verändert: der undurchsichtige Prozess der Entscheidungsfindung im Zentrum der Macht. Aus diesem Grund herrscht auch weiterhin Ungewissheit über die tatsächlichen Motive der Herrscher des Landes. 

Kritiker des Regimes sehen vor allem die Differenz zwischen sozialer und politischer Liberalisierung weiterhin als Problem. Die Reformen hätten zwar eine Wirkung, sagt Duaa Dhainy, Forscherin und Aktivistin bei der in Berlin ansässigen "European Saudi Organization for Human Rights" (ESOHR) . Doch diese seien begrenzt. Jeder, der sich den Reformen widersetze, müsse weiter mit Verhaftung, Zensur oder "harter Bestrafung" rechnen.

Schattenseiten der Modernisierung

Als Beispiel für die Schattenseite der angeblich der Zukunft verpflichteten Politik verweist Dhainy auf das futuristische Megastadtprojekt "Neom" am Roten Meer. "Man hat viel davon gesprochen, dass es sich um eine grüne Stadt handele, die gesunde Lebensverhältnisse biete. Tatsächlich aber werden die Menschen, die dort seit Generationen leben, aus ihren Häusern vertrieben, um Platz zu schaffen."

Tatsächlich kam vor einiger Zeit sogar ein gegen die Vertreibungen protestierender Stammesführer ums Leben. Seine Unterstützer erklärten, er sei bei in einer Schießerei mit saudischen Sicherheitskräften gestorben.

Trotz einiger Veränderungen gebe es bisher keine wirkliche Verbesserung bei der Behandlung politischer Gefangener. Auch die Meinungsfreiheit sei nicht grundlegend erweitert worden, so Dhainy: "Die Reformen haben keinen bedeutenden Einfluss auf die Menschenrechtssituation. Solange das der Fall ist, handelt es sich um nichts als Propaganda."

 

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.