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Reformstau am Bosporus

Oktay Pirim14. November 2002

Gut zehn Tage nach dem Wahlsieg der islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei ist erstmals das neue türkische Parlament in Ankara zusammengetreten. Die Regierungszeit wird kein Zuckerschlecken.

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Die Wirtschaftsflaute hat Hunderttausenden den Job gekostetBild: AP

In erster Linie will ein Berg von wirtschaftlichen Problemen abgetragen werden: Die sozialen Folgen der schweren Wirtschaftskrise - Arbeitslosigkeit, Verarmung, enorme Mängel im Bildungs- und Gesundheitswesen - sind nur einige der Felder, die das künftige Kabinett der reform-islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) abzuarbeiten hat. In den letzten zwei Jahren haben zwei Millionen Türken ihren Arbeitsplatz verloren, weil massenhafte Pleiten zur Schließung von handwerklichen Betrieben und Fabriken geführt haben. Nach inoffiziellen Schätzungen liegt die Zahl der Arbeitslosen deutlich über der Zehn-Millionen-Marke.

Verarmung und fehlende Investitionen

Während rund zehn Millionen Menschen wegen Fehlens einer Arbeitslosenversicherung gänzlich ohne Einkommen sind, müssen weitere rund 20 Millionen Türken mit dem monatlichen Mindestlohn von umgerechnet rund 110 Euro über die Runden kommen. Die Auslandsverschuldung liegt bei 122 Milliarden Dollar, die Inlandsverschuldung bei über 80 Milliarden Dollar. Angesichts dieser Parameter kann der Verarmungsprozess im Lande niemanden überraschen. Bei einer Inflation von offiziell 40 Prozent pro Jahr, die die Einkommenssteigerungen erheblich übertrifft, aber noch nicht einmal annähernd an das Zinsniveau herankommt, ist der Investitionsdrang auf ein Minimum gesunken. Außerdem gibt es kaum ausländische Investoren: Neben der wirtschaftlichen Unsicherheit fühlen sich ausländische Kapitalgeber vor allem von der staatlichen Bürokratie abschreckt.

Was sonst noch auf der Tagesordnung steht

Der Parteichef der AKP, Recep Tayyip Erdogan, hatte bereits im Wahlkampf vorrangig der Arbeitslosigkeit und der Armut den Kampf angekündigt. Gestörte Balanceverhältnisse im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie im Sozialsystem seien ebenfalls zu korrigieren, sagte er. Weitere Probleme, die auf die neue türkische Regierung zukommen, sind: aufgeblähte Kader in staatlichen Betrieben, die bislang misslungene Verkleinerung des staatlichen Sektors, eine notwendige Bankenreform, Engpässe in der Landwirtschaft und fehlende Transparenz in der öffentlichen Verwaltung. Neben diesen inneren Problemen gibt es weitere, die von außen auf die Regierung zukommen - etwa die weitere Annäherung an die EU.

Immerhin gibt es hier zwischen der AKP und der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei von Deniz Baykal - der einzigen Oppositionspartei - keine Meinungsverschiedenheiten: Beide drängen darauf, dass Brüssel der EU möglichst bald ein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen nennt. Wie der Dauerkonflikt Zypern gelöst und die Irak-Krise mit minimalem Schaden für die Türkei überwunden werden, hängt dagegen weniger von den beiden Parteien im Parlament ab, sondern von der Staatsführung insgesamt - und vor allen von den mächtigen Militärs.