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Regierung verabschiedet sich von Inzidenzwert

24. August 2021

Wende in der deutschen Corona-Politik: Der Inzidenzwert ist nicht mehr das Kriterium für Beschränkungen, viele Menschen sind schon geimpft. Unsicherheiten bleiben trotzdem.

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Deutschland Berlin | Jens Spahn
"Der Inzidenzwert ist überholt": Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Noch so ein sperriges Wort, und dennoch wissen mittlerweile wohl alle Menschen in Deutschland, was damit gemeint ist: Inzidenz. Konkret bedeutet der Wert, wie viele Menschen pro 100.000 Einwohner sich innerhalb einer Woche mit dem Corona-Virus infizieren. Liegt er bei 50 oder darüber, greifen Beschränkungen. So steht es momentan im Infektionsschutz-Gesetz. Kontakte müssen dann reduziert werden, Geschäfte, Restaurants und Kinos müssen gegebenenfalls schließen. Eigentlich. Aber die Inzidenz soll bald schon nicht mehr das alles bestimmende Kriterium sein, um Schritte in der Pandemie zu begründen. Das hat das Corona-Kabinett der Bundesregierung am Montag beschlossen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) soll nun möglichst noch vor der Bundestagswahl am 26. September eine Neufassung des Gesetzes formulieren. 

Deutschland Bremen | Impfwagen beim Spiel der 2. Bundesliga gegen Hannover
Mit immer kreativeren Ideen für das Impfen: Impfwagen vor dem Stadion von Zweitligist Werder Bremen Bild: Carmen Jaspersen/dpa/picture alliance

Die neue Richtschnur: Die Belegung in den Kliniken

Spahn will ab sofort die Belegung der Krankenhäuser mit Corona-Patienten zum Leitfaden der Pandemie-Bekämpfung machen. In der ARD sagte der CDU-Politiker, die Inzidenz bleibe zwar wichtig, habe aber wegen der hohen Zahl am Geimpften als alleiniges Kriterium ausgedient. Auf die Frage, ob bei weiter steigenden Infektionszahlen im Herbst ein erneuter Lockdown in Deutschland drohe, antwortete Spahn: "Für Geimpfte und Genese sicher nicht."

Corona in Wahlkampfzeiten

Gerade in Wahlkampfzeiten ist das die positive Nachricht der Politik an die Bürger: Wer vollständig geimpft oder von einer Covid19-Erkrankung genesen ist, muss keine neuen Beschränkungen fürchten, auch nicht bei steigender Inzidenz. Tatsächlich aber ist die Infektionsrate in den vergangenen Wochen stetig gestiegen, schuld ist die hoch-ansteckende Delta-Variante des Virus. Zu Wochenbeginn lag die durchschnittliche Inzidenz in Deutschland bei 58, im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen sogar bei 103.

Kritik von den Grünen

An diesem Punkt sagt der Gesundheitsexperte der Bundestagsfraktion der Grünen, Janosch Dahmen, der DW: "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es weniger um den Schutz der Menschen geht als um ein Wahlkampf-Geschenk an den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, an Armin Laschet, der ja auch Kanzlerkandidat ist. Und in dessen Bundesland die Pandemie gerade zusehends außer Kontrolle gerät." Dahmen bemängelt vor allem: "Die Pläne der Bundesregierung zur Streichung der Inzidenz von 50 aus dem Gesetz wirken auf mich unausgegoren. Es ist nicht klar, welche Rolle die Inzidenz künftig spielen soll, sie erscheint mir unbestimmt. Unklar ist auch, welcher Grenzwert der Krankenhaus-Belegung durch Corona-Patienten denn nun in Zukunft gelten soll."  Nur 1,3 Patienten pro 100.000 Menschen innerhalb von sieben Tagen liegen derzeit im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion in deutschen Krankenhäusern. Denn auch wenn bereits Geimpfte durchaus infiziert werden und auch erkranken können, sind die Verläufe zumeist milde. Ins Krankenhaus muss kaum ein Geimpfter.

Deutschland | Coronapatienten im Krankenhaus
Noch sind nur wenige Menschen wegen einer Corona-Infektion im Krankenhaus, wie hier in MagdeburgBild: RONNY HARTMANN/AFP

SPD wirft Spahn Zögerlichkeit vor

Auch die SPD war im Corona-Kabinett vertreten, will aber die Verkündung der zunächst frohen Botschaft für Genesene und Geimpfte nicht allein Spahn überlassen, die Bundestagswahl lässt grüßen. Der stellvertretende Vorsitzende SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, sagte t-online: "CDU und CSU haben die Vorstöße der SPD, diese Inzidenz-Werte zu streichen, immer wieder zurückgewiesen. Wertvolle Wochen, in denen ein Gesetzgebungsverfahren ordentlich hätte vorbereitet werden können, sind durch diese Unions-Blockade verstrichen."

Laschet klar gegen einen generellen Lockdown

Konkret lautet der neue Kurs der Regierung also: Freiheiten für Geimpfte und Genesene in Restaurant, Cafés und Kinos, im Schwimmbad und im Fitnessstudio.Ungeimpfte müssen sich aktuell testen lassen und ab dem 11. Oktober für die bislang kostenlosen Tests auch zahlen. Genau so formulierte das auch am Wochenende Armin Laschet, der Kanzlerkandidat von CDU und CSU. Er sagte der "Bild-Zeitung": "Ich setze darauf, dass wir beim Impfen weiter Fortschritte machen, dass wir für die, die geimpft sind, keine Beschränkungen mehr machen und dass wir vor allem keinen Lockdown mehr machen." Eine erneute Schließung von Restaurants, Kinos und Geschäften, fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie: eine Horror-Vorstellung. Die Politik will das auf jeden Fall verhindern. 

Hausarzt Kreischer: Druck auf Ungeimpfte muss höher werden

Etwa differenzierter sieht das der Vorsitzende des Hausärzteverbandes Berlin-Brandenburg, Wolfgang Kreischer, der in Berlin-Zehlendorf selbst eine Praxis betreibt. Seiner Ansicht nach sollte die Infektionsrate, also die Inzidenz, durchaus weiter im Auge behalten werden. "Wir müssen ja immer noch wissen, wie viele Menschen sich tatsächlich infizieren. Aber die Politik braucht Argumente, um einen weiteren Lockdown auszuschließen. Das kann ich schon nachvollziehen", so Kreischer im Gespräch mit der DW. Und der Mediziner ergänzt: "Man hätte viel früher viel intensiver auf die noch nicht Geimpften Druck ausüben müssen, das ist nicht passiert." Viel früher etwa hätten Nicht-geimpfte ihre Tests selbst zahlen müssen, findet Kreischer. Momentan sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums 59,2 Prozent der Deutschen vollständig geimpft. Aber eben 40 Prozent noch nicht. "Und bei so vielen Menschen ohne Impfschutz wäre dann eine Inzidenz von 200 schon ein Alarmzeichen", meint Kreischer. Er spricht sich auch dafür aus, über eine "punktuelle Impfpflicht" etwa für Ärzte-und Pflegepersonal zumindest nachzudenken, wie sie es etwa in Frankreich gibt. Aber eine solche Impfpflicht, das hat die Regierung stets betont, wird es in Deutschland nicht geben.

Passanten in den Fussgaengerzonen in Muenchen .
Keine Masken, kaum Abstand: Ein Lokal in München Mitte AugustBild: picture alliance / SvenSimon

Beim Maskentragen werden viele Menschen sorgloser

Die Regierung aber hat zunächst einmal ihren neuen Kurs festgelegt: Vorrang für Geimpfte und Genese, Druck auf Menschen, die noch zögern mit der Impfung oder ganz dagegen sind. Und, darauf hat jetzt auch Jens Spahn noch einmal hingewiesen: Für alle Menschen gilt nach wie vor: Maskenpflicht, Abstand, Hygiene. Auch für Geimpfte und Genese. Aber genau hier liegt eine weitere Unsicherheit des neuen Kurses: Schon längst melden besorgte Kommunalpolitiker im ganzen Land, dass die Menschen mit steigender Impfquote sorgloser werden. Und auch das treibt die Infektionszahlen wieder nach oben, bei allen Menschen.