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Politik

Repressiver Staat - kranke Gesellschaft

Galina Petrowskaja | Markian Ostaptschuk
1. März 2017

Viel zu viele Russen landen hinter Gittern, beklagen Menschenrechtler. Das Land sei geprägt von einer "Gefängniskultur", die Brutalität in die Gesellschaft bringe. Sie sehen Parallelen zum sowjetischen Gulag-System.

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Symbolbild Amnestie in Russland
Bild: AFP/Getty Images/K. Kudryavtsev

"Wegen Diebstahl eines Huhns kann man ins Gefängnis kommen", sagt Olga Romanowa. Sie ist Leiterin der Stiftung "Russland sitzt". Die Organisation hilft Sträflingen, ihren Familien und Opfern der russischen Justiz. Romanowa kritisiert die Härte der Strafen in Russland und die repressive Politik des Staates. Viel zu viele Russen kämen hinter Gitter. Beispielsweise sei im vergangenen Jahr die Zahl der Menschen, die wegen "beleidigender" Reposts im Internet inhaftiert wurden, extrem angestiegen.

Jeder Vierte der rund 143 Millionen russischen Bürger - vor allem Männer - war schon einmal vor Gericht, im Gefängnis, in einem Straflager oder wurde anderweitig für Verbrechen bestraft. Es sind so viele wie in keinem anderen Land in Europa oder Asien. Insgesamt wurden in Russland im Jahr 2016 mehr als 630.000 Menschen in Untersuchungshaft, in Gefängnissen und Strafkolonien festgehalten.

Länder mit den meisten Gefangenen (Februar 2017) DEU

Wer einmal drin ist, kommt so schnell nicht wieder auf freien Fuß: Nach Angaben der russischen Strafvollzugsbehörden beträgt fast die Hälfte der Haftstrafen zwischen drei und zehn Jahren. Weitere 420.000 Russen erhielten Strafen, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden waren. Allein 2016 wurden in Russland mehr als zwei Millionen Verbrechen gemeldet, mehr als eine Million Straftäter wurden gefasst.

Warum gibt es so viele Straftäter?

Einer der Gründe, warum so viele Russen hinter Gitter kommen, sei der Wunsch der Ermittler, gute Bilanzen vorzulegen, sagt Romanowa im Gespräch mit der DW: "Wenn die Polizei im Januar 90 Verbrechen aufgedeckt hat, dann will sie im Februar mit 100 das Ergebnis übertreffen, um Prämien zu kassieren." Sie sagt, es seien oft schlecht ausgebildete Richter, die unrechtmäßige Urteile fällten.

Außerdem nähmen die Richter Schmiergelder an, berichtet Romanowa. Die Staatsmacht dulde dies, im Gegenzug würden die Gerichte in Streitfällen, bei denen es etwa um Wahlen gehe, bedingungslos auf der Seite der Staatsmacht stehen. Romanowa kritisiert auch die Staatsanwaltschaft: "Sie hat sich in ein Organ verwandelt, das weder Rechte noch Pflichten kennt, dafür aber gewaltige Möglichkeiten für Korruption bietet."

Olga Romanova Direktorin des Fonds Russland sitzen
Olga Romanowa leitet die Stiftung "Russland sitzt". Sie übt scharfe Kritik an den russischen BehördenBild: Fond Russland sitzen

Mehr als 200.000 Menschen landeten jedes Jahr in Russland unschuldig hinter Gittern, prangert Romanowa an: "Nur weil die Justiz Fehler macht oder einfach gleichgültig ist und die Fälle nicht genau untersucht - ganz zu schweigen von den Menschen, die in jemanden Auftrags oder aus politischen Gründen vor Gericht gestellt werden."

Keine staatliche Unterstützung

"Die repressive Staatsmaschinerie will die Menschen brechen", sagt Pjotr Kurjanow von der russischen Stiftung "Verteidigung der Rechte von Gefangenen" im Gespräch mit der DW. Er erinnert daran, dass es in russischen Haftanstalten Fälle von Folter gegeben hat. "Wütende Menschen, die dort wie Sklaven behandelt wurden, verlassen die Gefängnisse. Sie tragen in die Gesellschaft das, was sich in ihnen angestaut hat", analysiert Kurjanow.

210.000 Menschen kamen 2016 aus dem Gefängnis frei. Resozialisierungs-Programme funktionierten in Russland nicht, betont Kurjanow. "Da sitzt ein Mann vor mir, der sich an unsere Stiftung gewandt hat. Er hat weder Arbeit, Geld noch soziale Kontakte. Mir ist klar: Wenn wir ihm nicht helfen, dann schlägt er abends wieder jemanden zusammen", erzählt der Menschenrechtler. Der Staat stelle zwar Gelder für Resozialisierungs-Maßnahmen bereit, doch die versickerten in den Behörden.

"Weder Staatsmacht noch Bevölkerung achten die Gesetze"

"Russland hat sich nicht weit vom Gulag entfernt", glaubt Kurjanow. Das Kürzel "Gulag" bezeichnet das Netz von Arbeitslagern in der Sowjetunion und steht im weitesten Sinn für das gesamte sowjetische Repressionssystem. Kurjanow und Romanowa warnen, dass die zunehmenden Repressionen im heutigen Russland nicht ohne Folgen bleiben: Die Kriminalität nehme zu, die Sicherheit der Bürger ab. Die Menschen misstrauten der Justiz und den Strafverfolgungsbehörden immer mehr.

Gedenkstätte der Geschichte politischer Repressionen Perm-36
Gulag-Museum Perm-36: Seit 2015 wird dort nicht mehr der Opfer gedacht. Sie gelten nun als "Feinde der Sowjetunion"Bild: Perm-36

Zudem werde das Bewusstsein für Institutionen zerstört: Weder die Staatsmacht noch die Bevölkerung achteten die Gesetze. Die Menschenrechte würden mit Füßen getreten, wenn heute in Russland "die glorreichen Taten des stalinistischen Geheimdienstes NKWD" gelobt würden, der in seinen Straflagern Millionen von Menschen vernichtet habe, sagen die Experten.

"Humanismus wird bei uns als Schwäche gewertet, daher all die Grausamkeit. Es ist ein Teufelskreis", beklagt Romanowa. Weil so viele Menschen Erfahrungen mit russischen Gefängnissen gemacht hätten, sei Russland zu einem Land geworden, das von einer Gefängniskultur geprägt sei: "Wenn selbst der Präsident in einer Gaunersprache spricht, dann zeigt dies, dass die Gesellschaft krank ist."