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Republik Moldau: Europäische Träume in einem Armenhaus

24. Mai 2006

Nach dem EU-Beitritt Rumäniens wird die Republik Moldau zum direkten EU-Nachbarn. Die moldauische Führung will das Land möglichst schnell in die europäischen Strukturen integrieren. Doch dieses Ziel ist umstritten.

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55 Prozent der Moldauer leben unterhalb der ArmutsgrenzeBild: AP

Sergiu Bordeniuc betreibt eine Obstplantage in dem kleinen Dorf Seuca, eine halbe Autostunde von der moldauischen Hauptstadt Chisinau entfernt. Vor vier Jahren war er noch Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, konnte dabei aber kaum etwas für die Menschen tun. Das ganze Machtsystem ist korrupt, dagegen anzukämpfen hat keinen Sinn, sagt er. Um zu beweisen, dass man mit Arbeit auch etwas erreichen kann, hat er ein Grundstück von 27 Hektar gekauft und dort Obst angebaut. Eigentlich lohne sich das Geschäft nicht, so Sergiu, im letzten Jahr hat er damit nur 3.000 Euro verdient. Die einzige finanzielle Hilfe, die er erhält, kommt nicht vom Staat, sondern von seiner Frau, die in Italien arbeitet und in den letzten drei Jahren 30.000 Euro in das Geschäft investiert hat. Sergiu Bordeniuc beschwert sich: "Sie werden es nie verstehen, wie es ist, ohne Geld zu leben. Uns wurde immer beigebracht, auf den morgigen Tag zu hoffen. Ich aber möchte heute leben, nicht morgen! Hier, bei uns wird die Arbeit nicht geschätzt, nichts wird geschätzt. Ich habe das Vertrauen in unsere Gesetze verloren. Zurzeit bleibt mir nichts anderes übrig, als Bio-Produkte anzubauen und den europäischen Markt zu erobern."

Leben unter der Armutsgrenze

Ähnlich können sich viele Familien in der Republik Moldau über Wasser halten. Jeder fünfte arbeitet im Ausland und überweist das Geld an die Verwandten zuhause. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds werden dadurch 30 Prozent des Bruttosozialproduktes des Landes erzielt. Familien, die keine Verwandten im Ausland haben, gehören zu den ärmsten. 55 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Kein Grund zur Sorge, so der moldauische Premier Vasile Tarlev: "Das Wort 'Armut' ist für die Republik Moldova fremd. Heute beträgt das monatliche Durchschnittsgehalt fast 120 Dollar. Seit 2004 werden die Gehälter rechtzeitig - und in Geld, nicht in Waren - ausgezahlt".

Visafragen

Der kommunistische Regierungschef hat sich zum Ziel gesetzt, sein Land in absehbarer Zeit in die europäischen Strukturen einzugliedern. Durch Rumäniens und Bulgariens EU-Beitritt werde die Republik Moldova nur profitieren, so Tarlev. Auch sein Land habe der EU so einiges zu bieten: "Wir sind ein Agrarstaat und exportieren Weinerzeugnisse in mehr als 40 Länder der Welt. Wir werden auch weiterhin die Landwirtschaft fördern, weil wir einen sehr fruchtbaren Boden haben. Darüber hinaus bieten wir Möglichkeiten für zahlreiche Investitionen. Wir haben ein günstiges Steuersystem eingeführt, wollen das Industriepotential in den Regionen erweitern, um noch mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Spätestens zum 1. Januar 2007 werden wir die Visumspflicht für EU-Bürger aufheben."

Doch vor allem moldauische Bürger versuchen visafrei nach Europa zu kommen. Seit rumänische Staatsbürger ohne ein Visum in die EU einreisen dürfen, haben viele Moldauer einen rumänischen Pass beantragt. Schätzungsweise jeder Dritte ist bereits rumänischer Staatsbürger. Die 24-jährige Marina ist eine von ihnen. Zwei Jahre hat sie in Paris studiert und kennt den europäischen Alltag aus erster Hand. Sie sagt: "Dort ist das Leben ganz anders. Europa ist irgendwie veraltet, es ist Klassik. Russland ist moderner als Europa. Dort hat man aber nicht diese Sicherheit. Man weiß nicht, was der morgige Tag bringt. Am Anfang fiel es mir sehr schwer, diese Unterschiede zu akzeptieren. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, aber es zieht mich natürlich nach Europa".

Umstrittenes Vorbild Europa

Während viele junge Menschen sich nach Europa sehnen, verspricht sich die ältere Generation nicht viel davon. Zu frisch ist noch die Erinnerung an die guten, alten sowjetischen Zeiten, wo alle gleich waren und keine Angst vor der Zukunft haben mussten, erzählt Walentina Timofejewna. Für die europäische Euphorie hat die 65-jährige Rentnerin wenig Verständnis: "Heute ist es Mode geworden, sich mit allem nach Europa zu orientieren. Vielleicht sollten wir auch manches von dort übernehmen, doch es wäre ein Fehler, die ganze Politik und Wirtschaft danach auszurichten. Das zeugt von politischer Beschränktheit. Kein europäisches Land wird seine Absatzmärkte mit uns teilen. In Europa wartet keiner auf uns. Man hat dort seine eigenen Probleme, mit der hohen Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Vielleicht finden die Politiker dort irgendwelche Vorteile, aber einfache Bürger haben von dieser Annäherung nichts."

Walentina Timofejewna schüttelt mit dem Kopf, denkt kurz nach und fügt hinzu: "Ich würde gerne einmal nach Europa gehen, um zu sehen, was dort alles anders ist. Dort leben möchte ich aber nicht. Schauen Sie nur, was zum Beispiel in Frankreich los ist. Das ist Demokratie, die sich selbst in Frage stellt".

Ziel: Europäische Standards in allen Bereichen

Doch der moldauische Premier Vasile Tarlev lässt sich durch skeptische Einwände seiner Landsleute vom europäischen Kurs nicht abbringen. Sein Land gehöre nach Europa, nicht nur weil es bald daran grenzen wird, betont er: "Wir halten uns für Europäer und fühlen uns nicht anders als Deutsche oder Engländer. Moldova soll auch Mitglied der EU werden. Wir werden in allen Lebensbereichen europäische Standards einführen und die Mentalität der Menschen ändern. Natürlich brauchen wir dafür Zeit. Aber wir werden alles tun, um die Gesellschaft zu modernisieren und ein gleichberechtigtes EU-Mitglied zu werden".

Für diese Politik werde sein Land von Russland hart bestraft, so Tarlev. Aus Angst den Einfluss in der früheren Sowjetrepublik zu verlieren, hat der wichtigste Handelspartner Russland vor kurzem ein Importverbot für moldauische Erzeugnisse verhängt, weil diese angeblich Qualitätsmängel hätten. Unabhängige Beobachter gehen aber davon aus, dass es eine Reaktion auf den europäischen Kurs der Republik Moldau ist. Ein schwerer Schlag vor allem für mehr als ein Drittel der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind.

Auch der Obstbauer Sergiu Bordeniuc ist davon betroffen. Von europäischen Bestrebungen seines Landes hält er nicht viel. Für sich und seine Kinder sieht er momentan nur einen Ausweg: "Die größten Probleme stehen uns noch bevor. Ich weiß, dass meine Kinder hier keine Zukunft haben. Ich werde sie bei der ersten Gelegenheit nach Europa schicken, erstmal zum Studieren. Wenn ich eine Möglichkeit hätte, das Land zu verlassen, würde ich es heute noch tun, um wenigstens ein paar Jahre lang wie ein Mensch zu leben."

Olja Melnik
DW-RADIO, 24.5.2006, Fokus Ost-Südost