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Richard von Weizsäcker: Balkanländer müssen Kriegsverbrechen selbst aufarbeiten

21. April 2005

Die Internationale Balkankommission hat Empfehlungen für die Stabilisierung Südosteuropas vorgelegt. Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Mitglied der Kommission, sprach mit DW-RADIO über die Ergebnisse.

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Ehemalige Bundespräsident engagiert sich für einen stabilen West-BalkanBild: dpa

DW-RADIO/Albanisch: Die jüngsten Entwicklungen im Kosovo sind Besorgnis erregend: Es gab einen Sprengstoff-Anschlag und einen Mord innerhalb der letzten Tage. Die

Internationale Balkan-Kommission schlägt vor, den Balkan, einschließlich Kosovo, bis 2014 in die EU zu integrieren. Ist dieses Datum realistisch?

Richard von Weizsäcker: Wir haben natürlich keinen Termin gesetzt, bis zu dem die Länder des westlichen Balkans, wie wir hoffen, Mitglieder der Europäischen Union werden können. Wir haben nur daran erinnert, dass wir im Jahr 2014 uns an die historischen Ereignisse in Sarajewo erinnern, die 1914 zu einer europäischen Katastrophe geführt haben. Jetzt haben wir in unserer Kommission, die unter der Führung des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Giuliano Amato stand, uns in mehreren Reisen in den Ländern nach der Lage erkundigt und unsere Vorschläge dazu gemacht, dass und auf welchem Weg die Europäische Union helfen kann, um die Krisensituationen zu überwinden, auf die Sie im Zusammenhang mit dem Kosovo hinweisen, die sich aber nicht etwa auf das Kosovo beschränken.

Der ganze westliche Balkan gehört zur Verantwortung von uns in Europa. Wir haben dafür zu sorgen, dass auf die Dauer dort Stabilität und Frieden eintritt. Wir können dazu helfen, durch die langfristige, ich betone: die langfristige Perspektive einer Zusammenarbeit und Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Aber dazu müssen die Statusfragen geklärt werden. Die Statusfragen in Bezug auf Serbien-Montenegro mit Kosovo sind nicht wirklich geklärt. In Bosnien und Herzegowina ist es etwas vorangegangen, und in Mazedonien ist es etwas vorangegangen, aber alle diese Probleme sind noch nicht wirklich gelöst. Wir waren auch in Prishtina, wir haben dort verspürt, dass die Kosovo-Albaner und Serben vielfach unter einander noch nicht bereit und in der Lage sind, wirklich friedlich zusammenzuleben. Einen Minderheitenschutz durch eine Regierung zu erklären ist gut, aber es ist nicht ausreichend, wenn die Bevölkerung ihrerseits an diesen Minderheitenschutz sich nicht genügend hält und deswegen müssen wir dafür sorgen. Und das ist letzen Endes der Kern dessen, was wir mit unserer Kommission sagen wollen, wir dürfen doch nicht dazu beitragen, dass aus den Ländern im westlichen Balkan wegen dieser Schwierigkeiten so etwas wie ein politisches schwarzes Loch entsteht. Das gehört zu Europa, und demgemäss müssen wir uns an der Verantwortung für die Zukunft beteiligen.

Dazu gehört auch die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit in Ex-Jugoslawien. Welche Rolle spielt dabei das Tribunal in den Haag, Sie kritisieren es in ihrem Bericht?

Nein, wir sagen, die Zusammenarbeit mit dem Haager Gerichtshof ist richtig und notwendig, sie darf aber nicht das einzige sein, sondern sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen ist eine Aufgabe, die innerhalb eines jeden Landes ernst genommen werden muss. Es geht nicht um einzelne Verbrechen in der Vergangenheit alleine, sondern es geht um eine Aufarbeitung einer schweren Vergangenheit, die doch tief in die Bevölkerungen hineingewirkt haben. Und deswegen darf es nicht der Haager Gerichtshof allein sein, vor dem aber die Kommission ihren Respekt erweist, sondern es muss in erster Linie in den Nationen selbst vorangehen mit der ernsthaften Beschäftigung in Bezug auf die Vergangenheit.

Könnte Deutschland dazu als Beispiel dienen für manche Länder?

Wir wollen uns in Deutschland bestimmt nicht eine Rolle anmaßen, von der aus wir andere Länder beraten könnten. Jedes Land muss mit seiner Vergangenheit selber fertig werden. Und das ist im Falle der Deutschen eine sehr schwere und sehr belastende Vergangenheit. Ihre Generation soll nicht von der Vergangenheit bestimmt werden. Trotzdem müssen auch junge Leute natürlich in der Lage sein, zu verstehen, wo sie historisch her kommen. Damit haben wir uns in Deutschland intensiv beschäftigt, aber wir können, wollen und dürfen nicht für andere als Modell dienen.

Das Interview führte Anila Shuka
DW-RADIO/Albanisch, 18.4.2005, Fokus Ost-Südost