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Politik

Wer bestimmt die deutsche Flüchtlingspolitik?

10. August 2020

Der deutsche Innenminister bremst einzelne Bundesländer aus, die Migranten aus Griechenland aufnehmen wollen. Die Landesregierungen sprechen von einem Skandal.

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Griechenland Flüchtlingslager Moria
Bild: picture-alliance/ANE

Die Lager auf den griechischen Inseln platzen aus allen Nähten. Das Lager Moria auf Lesbos beispielsweise ist für knapp 3000 Flüchtlinge ausgelegt; aber nach jüngsten Angaben leben dort und in wilden Camps drumherum je nach Angabe zwischen 14.000 und 17.000 Menschen unter erbärmlichen Umständen. Es kommt immer wieder zu Gewalt zwischen Angehörigen verschiedener Nationalitäten und zum Streit mit der ortsansässigen Bevölkerung.

Die Menschen wollen eigentlich auf das europäische Festland. Zwar hat die griechische Regierung seit Anfang des Jahres rund 14.000 Migranten dorthin gebracht. Aber es kommen von der Türkei aus immer neue. Außerdem nimmt die türkische Regierung seit Beginn der Corona-Pandemie keine Migranten mehr zurück, die in Griechenland kein Asyl bekommen, wie es eigentlich in einer EU-Vereinbarung mit Ankara von 2016 geregelt ist.

"Aufschrei der Verzweifelten"

Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Armin Laschet hat sich bei einem Besuch in mehreren der Lager selbst ein Bild von den Zuständen gemacht und von einem "Aufschrei der Verzweifelten" gesprochen. Sein Besuch musste zwischenzeitlich aus Sicherheitsgründen unterbrochen werden, als die Menschen glaubten, er sei deutscher Regierungschef, und sich von ihm eine "Befreiung" des Lagers erhofften. Gemeint ist damit, dass sie nach Deutschland gebracht werden.

Griechenland | Ministerpräsident Laschet besucht das Flüchtlingslager Kara Tepe
NRW-Ministerpräsident Laschet, hier im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos, will helfen, aber nicht im AlleingangBild: picture-alliance/dpa/D. Hülsmeier

"Europa muss sich dieser Aufgabe annehmen", so Laschet. Aber er will nicht auf eine gesamteuropäische Antwort warten. Nordrhein-Westfalen hat angeboten, mehrere hundert besonders schutzbedürftige Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Gedacht ist das aber als Teil eines vom Bund koordinierten Aufnahmeprogramms zusammen mit anderen EU-Ländern. NRW-Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP sagt, es gebe "erhebliche rechtliche und organisatorische Probleme für ein gesondertes Landesprogramm".

Der Bund ist zuständig

Eine Aufnahme in Eigenregie haben dagegen die beiden Bundesländer Berlin und Thüringen angeboten. Auch wenn es nur um wenige hundert Menschen geht, sind die Landesregierungen damit in einen heftigen Streit mit Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU geraten. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung könnte auch mit Parteipolitik zu tun haben: Berlin wie Thüringen werden von dezidiert linken Koalitionen regiert, Berlin von einer von der SPD geführten, Thüringen von einer unter Führung der Linkspartei; beide liegen des Öfteren im Clinch mit dem Hardliner Seehofer, der Migration einmal als die "Mutter aller Probleme" bezeichnet hat.

Horst Seehofer
Seehofer - hier im Juni in Erfurt - war schon immer für eine restriktive deutsche FlüchtlingspolitikBild: picture-alliance/dpa/M. Schutt

Seehofer hat die Pläne Berlins und Thüringens gestoppt und das mit der Zuständigkeit des Bundes in dieser Frage und dem Ziel begründet, eine europäische Lösung zu finden. "Kein Land der Welt kann Migration allein bewältigen", so Seehofer. "Umso wichtiger ist es, dass wir bei der europäischen Asylpolitik endlich sichtbar vorankommen. Wir sind auf einem guten Weg, und ich bin nicht bereit, das jetzt zu gefährden." Für "nationale Alleingänge" stehe er nicht zur Verfügung.

Dabei fehlen mit dem innerdeutschen Streit selbst für einen "nationalen Alleingang" bereits die Voraussetzungen. Seehofer hat einen Brief an den Berliner Senat geschrieben und darin vor allem zwei Gründe genannt, warum er dem Bundesland ein eigenes Aufnahmeprogramm verweigert.

Es gab Ungleichbehandlungen

Zum einen will Seehofer die Rechtsgrundlagen in ganz Deutschland bei der Flüchtlingsaufnahme vereinheitlichen. In der Vergangenheit hat es sowohl Bund- als auch Länderprogramme mit teilweise unterschiedlichen Rechtsgrundlagen für dieselben Personengruppen gegeben.

Im Oktober 2015, auf dem Höhepunkt des Zuzugs, hatten Forscher des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration solche Unterschiede kritisiert. Die Dauer der Aufenthaltserlaubnis, das Recht auf Familiennachzug oder der Zugang zu Gesundheitsleistungen fielen zuweilen auseinander. Manche Länder verlangten von Helfern auch Bürgschaften für einreisende Flüchtlinge - mit manchmal ruinösen Folgen für die Bürgen. Allgemein, so das Ergebnis der Untersuchung, waren die Menschen, die über Länderprogramme ins Land kamen, schlechter gestellt als diejenigen, für die sich der Bund verantwortlich erklärte. 

Deutschland Flüchtlinge kommen an der ZAA in Berlin an
In der Vergangenheit waren Flüchtlinge über Länderprogramme manchmal schlechter gestellt (Archivbild)Bild: Getty Images/S. Gallup

Dasselbe droht nach Auffassung Seehofers jetzt wieder: Ein Programm des Bundes ist bereits angelaufen, mit dem vor allem kranke Kinder mit ihren Kernfamilien von den griechischen Inseln nach Deutschland geholt werden; parallele Länderinitiativen will Seehofer vermeiden. 

Was die Landesregierungen nicht verstehen ist, dass Seehofer ihnen frühere Aufnahmeprogramme genehmigt hat. Dabei ging es zum Beispiel um Jesiden aus dem Irak oder zusätzliche Kontingente für Syrer. Der Unterschied zu den griechischen Lagern: Damals kamen die Menschen nicht über ein EU-Land, sondern direkt aus ihren Heimatstaaten, meist in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.

Eine europäische Flüchtlingspolitik steht in den Sternen

Und dies ist Seehofers zweites Hauptargument: Er befürchtet, dass die europäische Asylpolitik konterkariert wird, wenn deutsche Bundesländer an den europäischen Asylregeln vorbei Flüchtlingspolitik betreiben und nicht einmal Deutschland eine einheitliche Linie hat. Die Bundesregierung hat sich in ihrer laufenden EU-Ratspräsidentschaft unter anderem das Ziel gesetzt, die EU-Asylpolitik zu reformieren und zu vereinheitlichen.

Griechenland Flüchtlingsboot an der Küste von Lesbos
Eine einheitliche Politik der EU im Umgang mit Migranten ist nicht in SichtBild: Reuters/A. Konstantinidis

Die Widerstände dagegen sind allerdings gewaltig. Die hauptbetroffenen Mittelmeeranrainer wie Italien, Griechenland und Malta sind für ein festes Verteilungssystem von Migranten auf alle EU-Länder. Das lehnt eine Reihe von Mitgliedsstaaten vor allem im Osten der EU rundheraus ab, und zwar "in jeder Form", wie sieben Länder im Juli in einem Brief an die Kommission betont haben. Jeder noch so kleine Kompromiss mit ihnen scheint Seehofer nur möglich, wenn Ruhe herrscht, sprich: wenn es keine neuen Aufnahmeinitiativen aus deutschen Bundesländern gibt.

Seehofer bekommt allerdings deutlichen Gegenwind von linken Parteien und von den Kirchen. Berlins Regierender Bürgermeister, der SPD-Politiker Michael Müller, findet in Seehofers Ablehnung skandalös. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt fordert den Minister auf, hilfsbereite Länder nicht länger auszubremsen, während die Linken-Politikerin Heike Hänsel von einer "Torpedierung" sprach. Auch Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat sich mehrfach empört darüber geäußert, dass Kommunen und Länder Menschen aufnehmen wollen und der Bundesinnenminister das blockiert. Doch rein rechtlich gesehen hat Seehofer die Macht, eine Einheitlichkeit der deutschen Flüchtlingspolitik durchzusetzen.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik