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Roald Dahl-Neufassung: Was ist 'Sensitivity Reading'?

Sarah Hucal
24. Februar 2023

Neben den Neufassungen von Roald Dahls Kinderbüchern will der Penguin Verlag noch 2023 eine unveränderte "Classic Collection" herausbringen. Er reagiert damit auf Kritik an der angekündigten Neuauflage.

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Ein goldenes Ei und das Cover des Buches "Charlie und die Schokoladenfabrik" von Roald Dahl stehen auf einer schwarzen Unterlage.
An den Kinderbüchern von Roald Dahl wurde eine Vielzahl von Änderungen vorgenommen Bild: Frederic J. Brown/AFP/Getty Images

Wie der Verlag Penguin Random House am Freitag (24.2.2023) ankündigte, wird er noch in diesem Jahr 17 Werke des britischen Schriftstellers Roald Dahl in der Originalversion herausbringen. Diese Entscheidung erfolgte auf Kritik an Kürzungen und Veränderungen in Dahl's Kinderbüchern durch den zu Penguin gehörenden Verlag Puffin Books, um sie modernen Lesenden anzupassen. Mit der neuen "The Roald Dahl Classic Collection" würden "Leser und Leserinnen frei entscheiden können, welche Version von Dahl's Geschichten sie bevorzugen", erklärte der Verlag. 

Vergangene Woche hatte die britische Tageszeitung "The Telegraph" berichtet, dass Puffin Books Hunderte von Änderungen an den Figuren und der Sprache in den berühmten Kinderbüchern Roald Dahls (1916-1990) vorgenommen habe. Dazu gehört die nun geschlechtsneutrale Bezeichnung der kleinen Oompa Loompas in "Charlie und die Schokoladenfabrik" und die Charakterisierung von Augustus Gloop als "enorm" statt "fett". Diese Änderungen betreffen die englischen Ausgaben der Kinderbücher, nachdem sogenannte Sensitivity Reader beauftragt worden waren, die Bücher zu lesen und auf mögliche beleidigende Inhalte hinzuweisen.

Ein Sprecher des Roald-Dahl-Verlags erklärte in diesem Zusammenhang, die Änderungen seien "klein und wohlüberlegt". Trotzdem löste die Ankündigung einen Aufschrei bei einer Reihe von Schriftstellern sowie beim britischen Premierminister Rishi Sunak aus, der über einen Sprecher mitteilen ließ, dass "fiktionale Werke erhalten und nicht geschönt werden sollten". Autor Salman Rushdie sprach in einem Tweet von "absurder Zensur".

Unabhängig davon, ob man damit einverstanden ist, wie Dahls Bücher im Englischen überarbeitet wurden, bietet die Debatte die Möglichkeit, etwas über einen neuen Beruf zu erfahren: den Sensitivity Reader.

Sensitivity Reader: eine andere Art von Lektorat

Das englische Wort "sensitivity" bedeutet im Deutschen Empfindlichkeit oder Sensibilität. Sensitivity Reader werden von Verlagen eingestellt, um Bücher auf beleidigende Inhalte, Stereotype, Vorurteile und mangelndes Verständnis für marginalisierte Gruppen zu prüfen.

"Ich glaube, viele Leute hören von dem Job in dem Kontext von 'Oh, der woke Mob kommt, um deine Lieblingsliteratur zu holen, und sie verderben die besten Bücher'. Aber das ist, ehrlich gesagt, ein Haufen Unsinn", sagt Helen Gould, eine professionelle Schriftstellerin aus dem Vereinigten Königreich, die seit 2017 als Sensitivity Reader arbeitet.

"Ein Sensitivity Reader ist eine andere Art von Lektor, und wir suchen nach Dingen, die vielleicht nicht so rüberkommen, wie der Autor es beabsichtigt hat", erklärt Gould.

Helen Gould lächelt in die Kamera
Helen Gould arbeitet bereits seit einigen Jahren als Sensitivity ReaderBild: Privat

Ihren ersten Job in dieser Funktion hatte sie, als sie das von einem Freund entwickelte Spiel auf potenziell beleidigende Inhalte prüfte. Seitdem hat sie eine Vielzahl von Inhalten gegengelesen, einschließlich fiktionaler Bücher. "Ich habe sogar einige Sachbücher geprüft, in denen es um die Geschichte von People of Color geht, deren Autoren aber selbst keine People of Color waren. Es kann also sein, dass sie im Text einen Scherz machen wollen, und es ist meine Aufgabe, ihnen zu sagen: 'Oh, ich glaube nicht, dass das gut ankommt.'"

Goulds Ansatz beim Gegenlesen sensibler Themen besteht darin, einen Text mit zwei Fragen im Hinterkopf zu lesen: "Wird dieser Text möglicherweise Schaden verursachen? Und wenn ja, wie können wir dafür sorgen, dass er keinen Schaden verursacht?"

Außerdem betont sie, dass Sensitivity Reader, anders als manche meinen, nicht mit dem Rotstift durch Texte gehen und sagen: "Das darfst du nicht sagen." Stattdessen achtet sie auf Nuancen und Vielschichtigkeit. Etwa verweist sie auf Charaktere, die eher zweidimensional erscheinen und Stereotype bedienen. "Ich könnte sagen: 'Oh, das ist eine schwarze Figur, die fast immer wütend ist. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Ihrer Persönlichkeit eine andere Dimension zu geben?"

Im Anschluss schickt Gould ihre Vorschläge an den Verlag, der sie dann an den Autor oder die Autorin weitergibt. In den meisten Fällen seien diese aufgeschlossen und hätten ihre Vorschläge berücksichtigt, so Gould.

Sensitivity Reader: Experten für verschiedene Themen

Jeder Sensitivity Reader hat unterschiedliche Spezialgebiete. Gould etwa ist auf Rassismus und Politik spezialisiert. An dem Tag, an dem sie mit der DW sprach, arbeitete sie an einem Projekt, bei dem sich die Autoren mit der Reproduktion kolonialer Denkweisen beschäftigten. Andere Fachgebiete sind zum Beispiel der Umgang mit nicht-binären Identitäten, posttraumatischen Belastungsstörungen, Angst oder Depression.

Der britischer Schriftsteller Roald Dahl sitzt auf einem Stuhl, lächelt in die Kamera und hat zwei Hunde auf dem Schoß.
Ist Roald Dahls Sprache heute noch angemessen? Das prüfen Sensitivity ReaderBild: dpa/picture alliance

"Manche kennen sich am besten mit Themen wie Transgender aus, andere können am besten Themen mit jüdischen Personen prüfen. Es hängt alles von der gelebten Erfahrung und dem Fachwissen des Einzelnen ab", erklärt Gould. Sie verweise Autoren häufig an Lektoren mit anderen Spezialisierungen, wenn sie das Gefühl habe, dass diese Person ihnen am besten helfen kann.

Sollte man Shakespeare neu schreiben?

Gould frustriert es, wenn sie gebeten wird, etwas zu lesen, das bereits veröffentlicht wurde: "Ich persönlich glaube nicht, dass Sensitivity Reading sinnvoll ist, wenn etwas bereits veröffentlicht wurde - wenn das Kind sozusagen schon in den Brunnen gefallen ist". Stattdessen hält Gould den Ansatz des Medienunternehmens Disney für den besten: Bei älteren Zeichentrickfilmen, die rassistische Elemente enthalten, wird eine Warnung vorangestellt. Diese weist darauf hin, dass der Inhalt unsensibel ist. Gould ist der Meinung, dass man bei Büchern ähnlich verfahren könnte.  

"Wenn man wirklich weit zurückgehen will, würde ich nicht sagen, dass man Shakespeares 'Othello' ändern sollte, weil darin ein schwarzer Mann dargestellt wird, der seiner Wut nachgibt und stereotypisch gewalttätig ist", sagt Gould.

"Aber ich würde sagen, dass man diese Stereotypen im Hinterkopf behalten sollte, wenn man den Text liest - man sollte den Kontext der Zeit, den Rassismus der Zeit und die Tatsache, dass der Autor ein Weißer war, im Hinterkopf behalten, denn das wird einem helfen, den Text besser zu verstehen und nachzuvollziehen, was er aussagen will", so Gould.

Ob sich ihr Beruf in der Branche etablieren oder mit der Zeit in Vergessenheit geraten werde, sei jedoch unklar. Gould hält beides für möglich. "Einerseits sind 99 Prozent der Verlegerinnen und Verleger sowie der Redakteurinnen und Redakteure, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sehr darauf bedacht, dass sie marginalisierte Gruppen und Figuren auf die richtige Art und Weise darstellen (...). Aber in letzter Zeit erleben wir eine massive Gegenreaktion von Rechts auf die diversen Fortschritte, die wir seit den 90er-Jahren gemacht haben."

Mangelnde Diversität im britischen Verlagswesen

Bei einer Studie der UK Publishers Association aus dem Jahr 2022, die Diversität und Inklusion im britischen Verlagswesen untersuchte, kam heraus, dass dort nur 17 Prozent People of Color waren und es an Vielfalt mangelte.

In einem auf der Onlineplattform "The Conversation" veröffentlichten Artikel weist die Autorin Sarah Jilani, Dozentin für Englisch an der City University London, darauf hin, dass die Zusammenarbeit in der Verlagsszene von entscheidender Bedeutung sei und dass Sensitivity Reader ein notwendiger Teil des Prozesses seien, um ein Manuskript in den Druck zu bringen - insbesondere angesichts der mangelnden Vielfalt in der Branche.

Gould ist wichtig klarzustellen, dass Sensitivity Reader dazu da sind, den Autorinnen und Autoren zu helfen - und nicht, um sie zu zensieren. Im Zeitalter der sozialen Medien könne es für Autorinnen und Autoren "beängstigend" sein, ihr Werk zu veröffentlichen, da es sofort unter die Lupe genommen werde, sagt sie: "Wir können dem Autor oder der Autorin das Vertrauen geben, das Thema richtig behandelt zu haben."

Adaption aus dem Englischen: Maria John Sánchez und Bettina Baumann

Dieser Artikel wurde am 24.2.2023 aktualisiert.