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Rot-Rot-Grün regt die Fantasie an

3. September 2021

Sozialdemokraten, Linke und Grüne haben in Umfragen eine rechnerische Mehrheit. Was spricht für eine Koalition und was dagegen? Eine Analyse von Marcel Fürstenau.

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Symbolbild Rot-Rot-Grüne Koalition
Bild: Imago/C. Ohde

Angela Merkel blickt besorgt auf den 26. September, den Tag der Bundestagswahl in Deutschland. Der Grund: Nach 16 Jahren mit ihr als Regierungschefin könnten die Konservativen in der Opposition landen. Im aktuellen Deutschlandtrend kommen ihre Christdemokraten (CDU) gemeinsam mit der bayrischen Schwesterpartei CSU nur noch auf 20 Prozent. Klare Nummer eins sind mit 25 Prozent die Sozialdemokraten (SPD). Zusammen mit Grünen (16) und Linken (6) könnte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Moment eine Koalition bilden - aber will er das überhaupt?

Die Linke ist für eine Auflösung der NATO

Rot-Rot-Grün auf Bundesebene? Die nicht mehr kandidierende Angela Merkel warnt davor: "Mit mir als Bundeskanzlerin würde es nie eine Koalition geben, in der die Linke beteiligt ist. Und ob dies von Olaf Scholz so geteilt wird oder nicht, das bleibt offen", sagte die 67-Jährige am Dienstag in Berlin. Zwei Tage zuvor hatte das erste sogenannte TV-Triell stattgefunden - mit eben jenem Olaf Scholz, CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet und der Grünen-Kandidatin für die Merkel-Nachfolge, Annalena Baerbock.

Dreikampf ums Kanzleramt: Wer folgt auf Angela Merkel?

In einer Zuschauer-Umfrage unmittelbar nach dem knapp zweistündigen Schlagabtausch hatte Scholz die Nase vorn, obwohl er auf die Frage nach einer möglichen Koalition mit der Linken weder mit "ja" noch mit "nein" geantwortet hatte. Stattdessen nannte der amtierende deutsche Finanzminister und Vize-Kanzler Bedingungen: allen voran ein Bekenntnis zum nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO). Das wiederum wollen die Linken abschaffen - in ihrem Wahlprogramm steht: "Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands."

Noch ein Knackpunkt: Auslandseinsätze der Bundeswehr

Ein NATO-Austritt Deutschlands ist für SPD und Grüne allerdings ein absolutes No-Go. In beiden Parteien gehört die transatlantische Partnerschaft trotz Differenzen im Detail zur Staatsräson. Kurzum: Ein rot-rot-grünes Bündnis kann es nur unter der Bedingung geben, dass die Linke bei diesem Punkt einlenkt. Doch dafür gibt es keine Anzeichen. Im DW-Interview bekräftigte die Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl, Janine Wissler, die Ablehnung der NATO: "Nach dem Desaster, was wir gerade erleben in Afghanistan, finde ich, gibt es eine Partei, die jetzt relativ wenig Grund hat, ihre außenpolitischen Positionen zu überdenken. Und das ist die Partei Die Linke."

Im Interview: Janine Wissler von Die Linke

Die Diskrepanzen in der Außen- und Sicherheitspolitik, so scheint es, sind unüberbrückbar. Sollte die Linke also an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der NATO festhalten, hätten sich alle Gedankenspiele über Rot-Rot-Grün erledigt. Selbst bei einem radikalen Kurswechsel in dieser Frage wären in der Außen- und Sicherheitspolitik weitere Streitpunkte zu klären: Auslandseinsätze der Bundeswehr, die von der Linken kategorisch abgelehnt werden.

Weniger umstritten: Klima, Bildung, Digitalisierung, Steuern

Wobei auf diesem Gebiet unter dem Eindruck des Afghanistan-Desasters bei SPD und Grünen ein Umdenken vorstellbar ist. Als Kompromissformel wären humanitäre Einsätze unter Führung der Vereinten Nationen (UN) denkbar, sogenannte Blauhelm-Missionen. Auch in die Diskussion um bewaffnete Drohnen ist Bewegung gekommen. Die von den Linken abgelehnten Waffen sind auch in der SPD umstritten. Hingegen haben sich die Grünen auf ihrem Parteitag im Juni mit knapper Mehrheit dafür ausgesprochen, um sie zum Schutz deutscher Soldaten notfalls einzusetzen zu können.

Die Schnittmenge in der Außen- und Sicherheitspolitik ist zwischen den drei Parteien also erkennbar klein. In vielen anderen wichtigen Bereichen dürfte ihnen eine Annäherung leichter fallen. Ob Klima, Bildung, Finanzen oder Gesundheit - programmatisch liegt man relativ nah beieinander. Alle sind für den kompletten Umstieg auf erneuerbare Energien, eine bessere digitale Infrastruktur in Verwaltung, Schulen und Wirtschaft sowie höhere Mindestlöhne. Auch an höheren Steuern insbesondere für Vermögende wird eine rot-rot-grüne Koalition im Zweifelsfall eher nicht scheitern.

SPD will weiter abschieben - auch nach Afghanistan

Schwieriger könnte es in der Migrations- und Asylpolitik werden. Zwar sind alle drei Parteien für Zuwanderung, aber der SPD-Kanzlerkandidat will als Einziger in bestimmten Fällen an Abschiebungen auch in Länder wie Afghanistan festhalten. Daran ließ Olaf Scholz im DW-Interview keinen Zweifel: "Es ist richtig, dass jemand, der schwere Straftaten verwirklicht, nicht darauf rechnen kann, dass er hierbleiben kann. Und das gehört auch zum Schutz von Flüchtlingen dazu."               

Im Interview: Kanzlerkandidat Olaf Scholz

Nimmt man alle Knackpunkte zusammen, spricht wenig für eine rot-rot-grüne Bundesregierung - wenn sie denn nach der Bundestagswahl am 26. September rechnerisch möglich sein sollte. Zwar gibt es aktuell in drei von 16 Bundesländern Koalitionen in diesen Farben (Berlin, Bremen, Thüringen), aber auf dieser Ebene wird keine Außen- und Verteidigungspolitik gemacht. Die ist ausschließlich Sache des Bundes.

CDU/CSU favorisieren ein Bündnis mit Grünen und FDP

Abgesehen davon sind laut Deutschlandtrend rechnerisch so viele Bündnisse wie selten möglich. Am flexibelsten sind theoretisch SPD und Grüne, die mit Ausnahme der teilweise rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) jede Partei für koalitionsfähig halten. FDP und CDU/CSU hingegen lehnen auch Koalitionen mit der Linken grundsätzlich ab. Angela Merkels Christdemokraten haben dafür 2018 sogar einen Unvereinbarkeitsbeschluss getroffen.

Im Interview: Christian Lindner von der FDP

Wenn die Konservativen auch in der Ära nach Angela Merkel mit Armin Laschet den Kanzler stellen wollen, bleibt ihnen im Moment nur die Hoffnung auf eine schwarz-gelb-grüne Jamaika-Koalition mit der Umweltpartei und den Freien Demokraten. Die bahnte sich schon nach der Bundestagswahl 2017 an, scheiterte nach wochenlangen Gesprächen aber am überraschenden Rückzieher der FDP unter Partei-Chef Christian Lindner.   

Eine Alternative zu Rot-Rot-Grün wäre die Ampel-Koalition

Im Deutschlandtrend kommt dieses Trio derzeit auf 49 Prozent. Rot-Rot-Grün landet sogar nur bei 47 Prozent. Aber in beiden Fällen reichen diese Werte aktuell für eine absolute Regierungsmehrheit, weil viele Kleinparteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und deshalb nicht im Parlament vertreten sein werden. Eine stabile Mehrheit von 54 Prozent hätte momentan eine sogenannte Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Ein Bündnis, das dem zum rechten Flügel seiner Partei neigenden Olaf Scholz wohl lieber wäre als eines unter Beteiligung der Linken.

Oskar Niedermayer über Aufbruchstimmung und Stolpersteine

Langjährige Beobachter der politischen Szene wie der Parteienforscher Oskar Niedermayer halten Rot-Rot-Grün trotzdem für wahrscheinlich. Die Differenzen bei den außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen seien zwar der "größte Stolperstein", aber Leute aus allen drei Parteien arbeiteten schon daran, "Kompromisslinien zu finden". Das sagte der Politikwissenschaftler schon im Mai gegenüber der DW. Damals lagen die Grünen im Deutschlandtrend mit 26 Prozent an der Spitze, während die SPD nur auf 14 Prozent kam. Inzwischen haben sich die Gewichte fast umgekehrt.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland