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Rotkäppchen - zwischen Unschuld und Erotik

27. November 2016

Ist Rotkäppchen ein kleines, unschuldiges Mädchen? Offenbar erst seit den Gebrüdern Grimm. Davor kokettierte sie schon mal mit jugendlichen Charme und ließ sich vom Wolf verführen. Eine Begegnung mit vielen Rotkäppchen.

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Märchen Rotkäppchen und der böse Wolf
Bild: Imago/United Archives

Rotkäppchen hat mich immer abgeschreckt. Das Märchen von diesem kleinen, dummen Mädchen, das sich dem Wolf zum Fressen ausliefert. Und dann auch noch der männliche, mutige Retter, der Jäger als Held, der die blonde Unschuld und ihre Großmutter wieder aus dem Wolfsbauch schneidet. Und beide steigen mit bestechender Unlogik quietschlebendig und vollkommen heil aus seinen Gedärmen.

Die Gebrüder Grimm schienen diese Ungereimtheiten nicht zu stören. Ihnen ging es ja auch um die Abschreckung. Sie wollten den Kindern mal richtige Manieren beibringen: Hör auf deine Mutti, sein brav und traue keinem Fremden. Heute würde man das Xenophobie und Feigheit nennen. Doch als ich von dieser Ausstellung hörte - nur über Rotkäppchen! - wurde ich neugierig. Was kann hinter diesem blonden Mädel stecken, das ganze Vitrinen füllt?

Die Burg Wissem in Troisdorf
Märchenhaft - das Bilderbuchmuseum in Troisdorf.Bild: AP

Das Bilderbuchmuseum in Troisdorf, ein rot gestrichenes, burgähnliches Herrenhaus in dem sonst eher trostlosen Örtchen bei Bonn, besitzt die reichste Rotkäppchen-Sammlung Europas. Auf zwei Etagen leben hier etliche Rotkäppchen nebeneinander. Unten im Erdgeschoß: der Spielewald für Kinder.

Durch den Türspalt sehe ich noch ein Kind als Rotkäppchen pfeifend durch die Pappbäume spazieren. Die Treppe hoch wohnen die Rotkäppchen für Erwachsene. Hier gibt es keinen künstlichen Wald, sondern - ganz seriös und wenig originell - nur Schaukästen mit Büchern und Bilder an den Wänden. Aber in jeder Vitrine begegnet ein anderes Rotkäppchen einem anderen Wolf - nicht alles jugendfrei.

Diese Sammlung, so erzählt mir stolz Bernhard Schmitz, der Kurator der Ausstellung, wurde dem Bilderbuchmuseum von einem Schweizer Sammlerehepaar vermacht. Dreißig Jahre lang staubten Elisabeth und Richard Waldmann überall die unterschiedlichsten Rotkäppchen ab. Sie horteten allein 800 Bücher, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben wurden. Außerdem sammelten sie Puppen, Spiele, Geschirr, Werbung, und eine ganze Menge Kitsch. Wie kann man so besessen von einer Märchenfigur sein?

Das vielgesichtige Rotkäppchen 

Als ich die hölzernen Schaukästen nach dem Rotkäppchen durchsuche, das ich kenne - dem süßen, dummen Mädchen - merke ich, dass da noch andere Rotkäppchen neben ihr sitzen. Eines mit entblößtem Busen. Eins mit Irokesenschnitt, ein anderes lüstern und eines sogar boshaft. Das Mädel hat offenbar viele Gesichter.

Das erste, das französische Rotkäppchen, "Petit Chaperon Rouge", war kein kleines, unschuldiges Kind, sondern pubertär. Es gefiel ihm wohl, den Wolf zu reizen. Und auf dessen Einladung: "Viens te coucher avec moi", zog sich die junge Dame aus und legte sich bereitwillig - und nackt - neben den verführerischen Wolf ins Bett. Pure Koketterie. Mein Blick fällt auf ein modernes Comic aus den 1990er Jahren - Rotkäppchen als reine Sexgeschichte, das Märchen derb und verkommen. Das Sexuelle ist trotz der prüden Gebrüder Grimm offenbar nicht abhanden gekommen.

Ausstellung Rotkäppchen im Bilderbuchmuseum Burg Wissem in Troisdorf
Burgi Kühnemann dreht die Geschichte auf den Kopf - einmal wird Rotkäppchen zur Mörderin, einmal der Wolf zu Hitler.Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht

Ein Raum des Bilderbuchmuseums ist allein der Künstlerin Burgi Kühnemann und ihren sehr eigenen Rotkäppchen gewidmet. Sie steht vor einem ihrer Werke - einer Jägerweste mit zahlreichen Taschen, gefüllt mit Büchlein und Leporellos. "Der Wolf ist ein Opfer des Autoverkehrs" steht auf dem schmutziggrünen Stoff. Burgi Kühneman holt ein Büchlein aus der rechten Brusttasche. Darin sitzt ein jugendliches Rotkäppchen hinterm Steuer, drauf und dran den Wolf mit dem Auto umzufahren.

"Da war mal 'ne Reportage über den Wolf, der auf der Autobahn überfahren worden ist. Da hab' ich gedacht, früher wurde der Wolf gefürchtet, heute wird er ausgestopft." Burgi Kühemanns Stimme ist rau und etwas gedrückt. Aber sie redet gern. Und eröffnet mir gleich ihre nächste Rotkäppchen-Version: "Ich arbeite das auch in politische Dimensionen um. Zum Beispiel die Nazi-Zeit, die gibt sehr viel her. Der Adolf, der ließ sich von kleinen Mädchen Onkel Wolf nennen. Und das ist ja schon eine Dimension, die alleine schon..." Schockiert, wollte sie wohl den Satz beenden, doch da waren ihre Gedanken schon beim nächsten Rotkäppchen - vielleicht bei dem, das sich nackt und selbstverliebt im Spiegel betrachtet. 

Das berühmte Rotkäppchen, dieses blonde, kleine und naive ist also nur eines von vielen rotbekappten Mädchen. Und es ist die deutsche Version, die abgebrühte und kleinkindliche. Ich gehe noch einmal vorbei an den unterschiedlichen Schaukästen. Letzten Endes ist Rotkäppchen schizophren.