Das importierte Virus im Roma-Viertel
8. April 2020Die Aufnahmen der offiziellen Kameraleute der Polizei flimmern in Endlosschleife über die TV-Bildschirme der Rumänen: Dutzende Autos des Innenministeriums unterwegs in die Ortschaft Țăndărei im Südwesten des EU-Landes. Die Fahrzeuge in der Kolonne blinken und hupen, als wäre es nicht sowieso offensichtlich, dass sie dort in einer wichtigen Mission unterwegs sind. Sie fahren in das Roma-Viertel Strachina, eines der ärmsten in ganz Rumänien, das in Westeuropa als Hochburg der sogenannten Armutsmigration bekannt ist. In Deutschland gerieten Migranten aus Țăndărei ins Visier der Behörden, als sie illegal in überfüllten Hochhäusern in ehemaligen Arbeitervierteln im Ruhrgebiet hausten. In Großbritannien ist Țăndărei ebenfalls berüchtigt: Bewohner dieser rumänischen Ortschaft waren die Protagonisten spektakulärer Festnahmen, die zur Zerschlagung eines Rings von Kinderhändlern führten. Vor genau 10 Jahren, am 8. April 2010, landeten mehr als 300 maskierte rumänische und britische Sicherheitskräfte mit Hubschraubern im Roma-Viertel Strachina. Die umfassenden Ermittlungen im Herkunftsland dieser Banden, die Kinder nach Großbritannien brachten und sie zum Betteln und Stehlen nötigten, endeten allerdings mit einem peinlichen Scheitern der rumänischen Justiz: nach jahrelanger Prozess-Verzögerung wurden alle Angeklagten freigesprochen. Die Taten waren verjährt.
In diesem Kontext scheinen die zusätzlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Epidemie in der Ortschaft Țăndărei, die am letzten Wochenende komplett unter Quarantäne gestellt wurde, auch eine gute Gelegenheit für den Staat zu sein, seine Muskeln spielen zu lassen.
Wenn die Virus-Angst im Internet viral wird
Nach Angaben des stellvertretenden Bürgermeisters Lucian Achimaș, den die rumänische Online-Plattform Recorder zitiert, sollen bis zu 5.000 Menschen - also fast die Hälfte der etwa 13.000 Einwohner von Țăndărei - in den vergangenen Wochen aus dem Ausland zurückgekommen sein. Andere Quellen, die der Verwaltung des Kreises Ialomiţa nahstehen (zu dem der Ort gehört), nennen eine kleinere Zahl - rund 800. Die Kreisverwaltung meldete mindestens 56 Coronavirus-Infektionen und vier Todesfälle in Țăndărei im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie.
Die Quarantäne wurde verhängt, nachdem sich viele rumänische Internet-User über ein Video von einer Beerdigung empörten. Die Aufnahmen stammen zwar aus einem Nachbarort. Doch die Roma-Familien, die im Video zu sehen waren, sind mit jenen aus dem Viertel Strachina in Țăndărei verwandt, erklärt ein junger Menschenrechtsaktivist, der den Roma-Communities aus beiden Orten nahesteht. Auf epidemiologischer Ebene war die Lage schon seit einer Woche außer Kontrolle geraten wegen der hohen Infektionszahlen, doch die Behörden reagierten erst, nachdem nicht datierte Videoaufnahmen im Internet viral geworden waren, gefolgt von wutentbrannten Kommentaren.
Schon am 26. März war es zum ersten Corona-Todesfall in der kleinen Ortschaft gekommen. "Es sind einfach sehr viele Menschen aus Italien, Spanien, Deutschland und Großbritannien zurückgekehrt", sagt der Roma-Aktivist im Gespräch mit der DW. Weil er oft angefeindet wird, möchte er nicht, dass sein Name in diesem Artikel genannt wird. "Viele Infizierte, die keine Corona-Symptome hatten, kamen aus den 'Roten Zonen', und hatten direkt sehr viele Kontakte, zumal sie in ganz Europa verstreut waren und einander lange nicht mehr gesehen hatten. So ging alles los.“ Die Wahrheit sei irgendwo in der Mitte, sagt der Aktivist: "Die Menschen haben die Selbstisolation und Quarantäne nicht eingehalten, aber auch die Behörden haben sie nicht adäquat betreut und beobachtet. Also verschlechterte sich die Lage, mindestens sieben Menschen starben, darunter auch mindestens ein Mann, der zuvor nicht im Ausland gewesen war. Das bedeutet, es kam auch zu einer lokalen Übertragung.“
Unter dem Druck der Fernsehbilder und der Beschimpfungen auf Facebook forderte die Bürgermeister der Ortschaft am letzten Freitag die Hilfe der Armee in Țăndărei. Jetzt gehören uniformierte Soldaten zum Straßenbild, sie sollen dafür sorgen, dass sich die Einwohner an die Quarantäne-Regeln halten.
Wer das Sagen hat, verteilt die Wählerstimmen
Der Einsatz der Sicherheitskräfte war fast so spektakulär wie jener vor zehn Jahren. Zwar kamen sie nicht mit dem Hubschrauber, doch die Stimmung wirkte genauso bedrohlich. Der Bericht der Vertreter des rumänischen Innenministeriums erwähnt unter anderem, dass illegale Waffen beschlagnahmt worden seien. Augenzeugen sagen, es handele sich um AK-47-Maschinengewehre der gleichen Sorte wie jene, die vor zehn Jahren von der Polizei in Țăndărei konfisziert wurden. Am Ende des Prozesses wurden sie den Besitzern zurückgegeben - denn er endete mit dem Freispruch.
Vor einem Jahr behauptete Petre Traian Drăgușin, ein enger Gefährte von Radu Constantin, dem informellen Anführer der lokalen Roma-Gemeinschaft in Strachina, jeder Besitzer der damals konfiszierten Waffen hätte legale Dokumente gehabt. Außerdem kündigte er in jenem Gespräch mit der DW und der britischen Zeitung The Telegraph an, jeder der Angeklagten würde sich wegen des neunjährigen Prozesses gegen den rumänischen Staat wenden.
Mehrere NGOs vertraten in Gesprächen mit der DW die Meinung, diese informellen lokalen Anführer aus Strachina würden eine Mitschuld tragen für die schwierige Lage der Roma-Gemeinschaft vor Ort.
Beispielsweise sei ein von der EU finanziertes Bildungsprojekt nicht umgesetzt worden, weil das Team, dass dafür zuständig war, mit wüsten Drohungen wie verjagt worden sei. Auch die Lokalverwaltung habe außerdem von diesem Einfluss der Anführer der Roma-Gemeinschaft profitiert - durch viele Stimmen bei Lokalwahlen, räumte Petre Traian Drăgușin voriges Jahr ein.
Nachdem die Ortschaft unter Quarantäne gestellt wurde, zirkulierten schon am nächsten Tag Informationen über Übergriffe der Sicherheitskräfte. "Vielleicht war da ein isolierter Fall", sagt der Roma-Aktivist, mit dem die DW gesprochen hat. Mehr wisse man nicht. Eine ähnliche Meinung vertrat auch ein Gesundheitsbeauftragter für die Roma-Gemeinschaft in Strachina.
Viele hasserfüllte Kommentare in sozialen Medien spiegeln die Vorurteile gegen Roma, die in Rumänien und ganz Südosteuropa immer noch weit verbreitet sind: Die sogenannten "Zigeuner" seien schmutzig und unzivilisiert, kein Wunder, dass gerade Țăndărei ein Corona-Hotspot sei.
"Hier geht es nicht um ein ethnisches Problem, sondern um das Versagen von staatlichen Behörden", sagt Gelu Duminică im DW-Gespräch. Er ist einer der bekanntesten Soziologen Rumäniens und gehört selber zur Minderheit der Roma, wo er auch ein hohes Ansehen genießt. Vertreter der Behörden seien korrupt gewesen und hätten mit Kriminellen aus Țăndărei gemeinsame Sache gemacht, sagt der Soziologe. Außerdem habe der Staat die Menschen aus Strachina bereits vor 30 Jahren im Stich gelassen, als die Schule geschlossen wurde. Menschen ohne Schulbildung und Chancen auf dem legalen Arbeitsmarkt, die sehen, wie andere, die früher genauso arm waren, durch kriminelle Machenschaften reich wurden, würden außerdem eher auf dieses "Erfolgsmodell“ bauen, gibt Gelu Duminică zu bedenken.
Noch hält die Ruhe, die nach den ersten Tagen der Quarantäne in Țăndărei eingekehrt ist. Auch im Viertel Strachina. Wie es nach der Corona-Krise weitergehen soll, weiß heute niemand.