Rumänien: Misshandlung und Ausbeutung von Alten und Kranken
11. Juli 2023Vor 33 Jahren sorgten Enthüllungen über die schrecklichen Zustände in den Waisenhäusern des Ceausescu-Regimes im kommunistischen Rumänien für weltweite Empörung. Mindestens ein Fünftel der rund 100.000 internierten Waisenkinder kam infolge von Misshandlungen, mangelhafter Hygiene und fehlender medizinischer Betreuung ums Leben. Viele starben, weil sie Opfer von Nachlässigkeit, Desinteresse oder sogar Zynismus wurden. Die meisten Überlebenden wuchsen mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen auf.
33 Jahre umsonst?
Offizielle Statistiken aus der Zeit vor 1989 gibt es keine. Das kommunistische Regime kehrte die Wahrheit unter den Teppich, weil sie das Bild des "sozialistischen Arbeiterparadieses" ruiniert hätte.
Diejenigen, die damals im sogenannten Kinderschutz arbeiteten, waren kaum bereit auszusagen, wie jene Bilder möglich waren, die lange Rumäniens schwärzestes Etikett bleiben sollten: Unterernährte Minderjährige, die in der Kälte gehalten wurden und nicht in der Lage waren, Worte zu artikulieren, weil sich in den ersten Entwicklungsstadien niemand um ihre Grundbedürfnisse gekümmert hatte. Und weil sie unter der permanenten Wirkung der Beruhigungsmittel standen, mit denen sie vollgestopft wurden, um das Pflegepersonal nicht zu stören. Kinder mit schockierenden Spuren abscheulicher körperlicher Gewalt starrten ausdruckslos aus ihren rostigen Betten mit vergilbten und durchgelegenen Matratzen, hinter regelrechten Gittern, an die sie oft gefesselt waren, damit sie ihre Köpfe nicht gegen die Wände schlugen.
Ähnliche Bilder machen seit einigen Tagen wieder die Runde in den rumänischen Medien. Nur sind es diesmal ältere Menschen in "Pflegeheimen", die diese Bezeichnungen nicht verdienen. Und oft auch Menschen mit geistiger Behinderung.
Eine wahre Goldgrube
Schon vor einem halben Jahr deckten Investigativjournalisten der rumänischen Online-Publikation Centrul de Investigatii Media und Buletin de Bucuresti ein regelrechtes Geschäftsmodell auf, durch das sich die Beteiligten am Elend alter und kranker Menschen bereicherten: Einem privaten Unternehmen werden große Summen öffentlicher Gelder für die Betreuung von älteren Pflegebedürftigen zur Verfügung gestellt. Das Geld kommt aber nicht bei den Insassen der Heime" an, sondern landet in den Taschen der Betreiber. Lange Zeit gab es keine öffentliche Reaktion auf die Berichte - bis die Staatsanwaltschaft in der vergangenen Woche die Vorwürfe bestätigte.
Die nun offiziell formulierten Anschuldigungen zeichnen ein grauenhaftes Bild: systematische mangelnde Fürsorge, die zum Tod führt; Ausbeutung der Insassen durch Zwangsarbeit, Misshandlung, Gewaltanwendung; ständiger Mangel an notwendigen Medikamenten; unzureichende Ernährung bis hin zum Hungertod. Nachbarn hatten mehrmals bei staatlichen Institutionen vorgesprochen und berichtet, dass Insassen auch im Winter nackt und schmutzig am Zaun des Pflegeheims gestanden und um Geld oder Essen gebettelt. Ein Nachbar erzählte, die im Keller des Gebäudes untergebrachten Menschen hätten Tunnel gegraben, um dem Inferno zu entkommen.
Aus den Akten der für organisierte Kriminalität zuständigen Staatsanwaltschaft (DIICOT) geht zudem hervor, dass die Renten der Insassen beschlagnahmt und ihr Wohneigentum den Verantwortlichen der Heimleitung übertragen wurden. Mehr als einhundert Menschen seien aus drei Pflegeheimen gerettet und zur medizinischen Versorgung in Gesundheitseinrichtungen transportiert worden.
Politischer Schutzschild?
Die Zustände seien alles andere als einzigartig in Rumänien, sagt Ovidiu Vanghele. Der Journalist hat die jüngsten Ereignisse zusammen mit seiner Kollegin Bianca Albu mit ihren Enthüllungen angestoßen. Bereits vor zehn Jahren habe er ein anderes Zentrum für Menschen mit geistiger Behinderung entdeckt, das illegal betrieben wurde, erzählt Vanghele im DW-Gespräch. "Die Versorgung dieser Menschen ist ziemlich kompliziert, der Staat gibt viel Geld dafür aus. Doch das Geld käme nicht bei den Heiminsassen an.
Die Mechanismen, die dieses System der Sozialhilfe regelten, seien an sich gesund - Dezentralisierung, Fürsorge und Pflege in der Gemeinschaft und nicht irgendwo am Rande der Welt, wie dies früher praktiziert wurde. Aber die Regeln seien missbraucht worden und hätten zu einem "wahnwitzigen Privatisierungsboom" geführt. Es seien unzählige gewinnorientierte Unternehmen gegründet worden, die nur auf dem Papier Sozialhilfeleistungen anböten. Das meiste Geld käme nicht den Pflegebedürftigen zugute, sondern den Betreibern der Anstalten, sagt Vanghele.
Die Personen, gegen die die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen hat, verfügen über direkte Verbindungen zu rumänischen Politikern der regierenden Sozialdemokratischen Partei (PSD). Ein ganzes Netzwerk habe die Heim-Betreiber vor Kontrollen und Nachforschungen bewahrt, so die Journalisten. Verwandte und frühere Angestellte der rumänischen Familienministerin Gabriela Firea seien in den Skandal verwickelt. Firea ist erste Vizevorsitzende der PSD und ehemalige Oberbürgermeisterin der Hauptstadt Bukarest. Zudem ist sie die Ehefrau von Florentin Pandele, dem langjährigen Bürgermeister von Voluntari - dem Bukarester Vorort, in dem sich die vermeintlichen Pflegeheime befanden. Die Aufsichtsbehörde für die kommunalen Sozialdienste war von einer Schwester der Familienministerin geleitet. Von den Vorgängen will sie - ebenso wie Bürgermeister Pandele - nichts gewusst haben.
Der Einfluss einiger politischer Personen habe im Fall der Heime zu einer Art Lähmung der Institutionen geführt, so der Journalist Ovidiu Vanghele. Eigentlich hätten die merken müssen, dass die Dinge nicht in Ordnung waren: "Den von uns untersuchten Dokumenten zufolge gab es Dutzende von Inspektionen, an deren Ende bloß einige formelle Bußgelder verhängt wurden. Dienstleister bedeckten sich mit Papieren - mit fiktiven Verträgen für ärztliche Untersuchungen oder Verpflegungsleistungen. Wenn in Rumänien bekannt ist, dass der Chef einer Institution eine Vertrauensperson des Bürgermeisters ist, stören ihn die Kontrollbehörden nicht. Es entsteht eine Form der Selbstzensur. Es sind 'unsere Leute' und die behelligt man nicht", betont Vanghele.
"Eine nationale Schande"
Rumäniens Premierminister und PSD-Chef, Marcel Ciolacu, war zur Zeit der ersten Presse-Enthüllungen Anfang 2023 Vorsitzender der Abgeordnetenkammer. Er behauptet, er habe von dem gesamten Skandal erst nach Beginn der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft erfahren. Von der DW befragte Vertreter des rumänischen Presse-Monitorings behaupten jedoch, dass das Thema seit den ersten Enthüllungen in allen täglichen Berichten enthalten gewesen sei, die den zuständigen staatlichen Institutionen und den wichtigsten politischen Akteuren vorgelegt worden seien.
Ciolacu hat inzwischen die Entlassung einiger Institutionsleiter aus dem Sozialwesen angeordnet - wegen Nachlässigkeit im Amt. Die zuständigen Minister und PSD-Parteikollegen, Arbeitsminister Marius Budai und die erwähnte Familienministerin Gabriela Firea, genießen aber weiterhin sein volles Vertrauen. Beide Minister wollen von den Vorfällen nichts gewusst haben und wittern eine Kampagne der linksliberalen Opposition hinter den Enthüllungen.
"Die Reaktionen der politisch Verantwortlichen scheinen geprägt zu sein von Gefühllosigkeit,Trägheit und Indolenz gegenüber den Bürgern", sagt Vanghele. Es sei einfach lächerlich zu behaupten, sie hätten nichts davon gewusst. "Ich habe mit Dokumenten und Fakten belegt, dass sie über die Vorgänge informiert wurden", fügt er bitter hinzu.
Am Rande des NATO-Gipfels in Vilnius meldete sich auch Staatspräsident Klaus Iohannis zu Wort: "Die 'Heime des Grauens', wie sie genannt werden, sind eine nationale Schande." Er forderte die Bestrafung aller Beteiligten. "Ich hoffe, dass diejenigen, die in der Lage sind, politische Maßnahmen zu treffen, den Mut haben werden, dies zu tun", sagte Iohannis.
Klare Positionierung der orthodoxen Kirche
Bisher war in der rumänischen Öffentlichkeit oft von einer Verstrickung zwischen Politik und Würdenträgern der Orthodoxen Kirche Rumäniens berichtet worden. Jetzt allerdings hat sich die Kirche klar positioniert und sich von den Machenschaften des Netzwerks distanziert, das verdächtigt wird, mit politischer Unterstützung professionellen Sozialbetrug und Misshandlung Schutzbefohlener betrieben zu haben.
In einer Stellungnahme in den sozialen Medien verfasste Kirchen-Sprecher Vasile Banescu eine klare Botschaft an die politisch Verantwortlichen: "Zu behaupten, man wisse nichts von dem, was in einer öffentlichen Einrichtung geschehen sei, in der Menschen buchstäblich mit Füßen getreten wurden und unsägliches Leid erdulden mussten, bedeutet, jegliche Verantwortung von sich zu weisen." Es sei der ultimative Beweis einer Haltung geprägt von Erniedrigung und Zynismus.
Umgehend erntete Banescu heftige Kritik von Politikern, die er allerdings gar nicht namentlich erwähnt hatte - und ruderte ein bisschen zurück. Der Kirchen-Sprecher stellte klar, dass er nur seine persönliche Sicht auf die Dinge dargestellt habe. Er wolle die Orthodoxe Kirche als Institution nicht in die Debatte hineinziehen. Unterstützung für seine Position erhielt Banescu von großen Teilen der Zivilgesellschaft und einer Reihe religiöser Intellektueller.
UPDATE: Am Donnerstag (13.07.2023) verkündete Premierminister Marcel Ciolacu den Rücktritt seines Arbeitsministers Marius Budai. Beobachter in Bukarest gehen davon aus, dass weitere Rücktritte folgen könnten. 2024 ist ein Super-Wahljahr in Rumänien (Europa-, Lokal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen), der aktuelle Skandal hat dem "sozialen" Image der regierenden PSD einen gewaltigen Schaden zugefügt.
Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz