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Russland mit Tschaikowsky nach Tokio

Alexander Kosyakov
15. Juli 2021

Diese Olympischen Sommerspiele werden für Russland anders sein als zuvor. Der Dopingskandal war während der Vorbereitung auf Tokio 2020 ständiger Begleiter - und wird es bleiben.

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Russland Olympische Spiele Uniform russische Sportler
Die olympische Bekleidung der russischen Athleten für die Spiele in TokioBild: Pavel Golovkin/dpa/picture alliance

Weder Nationalhymne noch Nationalflagge und auch kein Bild von einem Bären auf Schwimmanzügen von Synchronschwimmerinnen - das ist die Realität für die russischen Athleten, die in ein paar Tagen zu Olympia nach Tokio reisen werden. Bis zum 16. Dezember 2022 sollen die russischen Sportler nach dem Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs (CAS) wegen der Manipulation von Doping-Daten nur unter neutralem Status bei internationalen Wettkämpfen antreten.

Die zugelassenen Athleten starten bei den Sommerspielen in Tokio unter dem Mannschaftsnamen "ROC", das ist die Abkürzung für Russia Olympic Committee (Russisches Olympisches Komitee), und unter der Flagge mit der Fackel und drei Flammen in den Farben Weiß, Blau und Rot (Farben der russischen Nationalflagge) zusammen mit fünf Olympischen Ringen. "Trotz des neutralen Status und problematischer Vorbereitung wegen der Pandemie sind wir sehr optimistisch und fliegen mit guter Laune nach Tokio", sagt der Präsident der Russischen Tennis-Föderation Schamil Tarpishchev, der auch Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ist, der DW.

Der Start unter neutralem Status hatte in Russland zu vielen Diskussionen geführt. Um die Emotionen zu beruhigen, verwies die russische Sportführung immer wieder auf die Regel 6.1 der Olympischen Charta. Darin heißt es, "die Olympischen Spiele sind Wettkämpfe zwischen Athleten in Einzel- oder Mannschaftswettbewerben und nicht zwischen Ländern". In Tokio wird das für die Sportlerinnen und Sportler so aktuell wie nie zuvor sein.

Start ohne Staatssymbole umstritten

Russland | Logo Russian Olympic Committee (ROC)
Neutrale Flagge: Das Logo des ROC-Teams in TokioBild: Mikhail Tereshchenko/TASS/imago images

"Natürlich ist es psychologisch sehr schwierig, ohne Identitätssymbole seines Landes bei großen Sportevents wie Olympia anzutreten", betont der ehemalige sowjetische Fußballspieler Sergej Schavlo, der bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau die Bronzemedaille gewonnen hat, im Gespräch mit der DW. "Für mich war es immer etwas Besonderes, die Hymne der UdSSR vor dem Spiel zu hören."

Im Gegensatz dazu empfindet die Olympiasiegerin im Turmspringen von Montreal 1976 Elena Waizechovskaja die Situation ohne Flagge und Nationalhymne auskommen zu müssen als nicht so schlimm: "Die Sportler bereiten sich mindestens vier Jahre und manchmal ihr ganzes Leben vor, um sich bei solch einem großen sportlichen Forum von der besten Seite zu zeigen. Für sie spielt es keine entscheidende Rolle, ob sie die Fahne sehen oder die Hymne hören. Sie konzentrieren sich auf die eigenen Auftritte." Außerdem wisse man ohnehin, welches Land die Athleten mit neutralem Status vertreten, ergänzt die mittlerweile 63-Jährige.

Immerhin muss das ROC-Team beim Einlaufen nicht ganz ohne musikalische Begleitung auskommen. Bei der Eröffnungszeremonie in Tokio wird ein Teil des berühmten Konzerts Nr. 1 für Violine und Orchester von Peter Tschaikowsky die russische Nationalhymne ersetzen. Einem entsprechenden Antrag Russlands hatte das IOC stattgegeben.

Null-Toleranz gegenüber Doping

Mit den russischen Athleten in Tokio einlaufen wird auch der Makel des Dopingskandals. In den russischen Medien allerdings war darüber in letzter Zeit kein Wort zu hören oder zu lesen, die Affäre um die Manipulation von Doping-Daten schon fast vergessen. In den Vordergrund traten stattdessen Themen wie Covid-19, Corona-Impfungen und -Tests und vor allem der Gesundheitszustand der russischen Athleten.

Russland | Präsident ROC Stanislav Pozdnyakov
Stanislav Posdnjakov: Präsident des Russischen Olympischen Komitees (OKR)Bild: Evgeny Odinokov/Sputnik/dpa/picture alliance

Und genau darüber sprach der Präsident des Russischen Olympischen Komitees (OKR), der viermalige Fecht-Olympiasieger Stanislav Posdnjakov, auf einer Pressekonferenz Ende Juni ausführlich. Schließlich widmete er sich dann doch auch der Doping-Thematik. Auf die Frage der DW, ob er Bedenken habe, dass es aufgrund weniger akribischer Athletenkontrollen wegen der Pandemie erneut zu Dopingproblemen kommen könne, antwortete der Chef des Olympischen Sports in Russland zuversichtlich: "Das stimmt, dass es fast unmöglich war, während der Pandemie-Spitze Athleten zu kontrollieren. Aber seit Herbst 2020 arbeitet die Rusada (Russische Anti-Doping-Agentur) in engem Kontakt mit der WADA (Welt-Anti-Doping-Agentur) und anderen internationalen Anti-Doping-Institutionen und wir hoffen, dass keine Dopingfälle in Tokio vorkommen werden. Somit wollen wir die Null-Toleranz gegenüber dem Gebrauch von verbotenen Mitteln bestätigen."

Schon zuvor formulierte Posdnjakov in einer Ansprache an junge Sportler sehr konkret: "Der Dopingoffizier ist kein Feind! Er ist genauso Teilnehmer an den Olympischen Spielen wie alle anderen." Angekommen scheinen diese Aufrufe allerdings nicht bei allen, denn jüngst mussten die beiden Ruderer Nikita Morgachev und Pavel Sorin wegen positiver Doping-Tests aus der Aufstellung für die Olympischen Spiele genommen worden. Posdnjakov zeigte sich irritiert angesichts der positiven Doping-Proben. Er sei der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada dankbar, dass sie sich "um die Probleme mit der möglichen Einnahme von verbotenen Präparaten kümmert und operativ entsprechende Maßnahmen ergreift".

Problemfall Leichtathletik

Besonders angespannt war die Lage im Vorfeld der Olympischen Spiele in der Leichtathletik. Als bekannt gegeben wurde, dass der Internationale Leichtathletik-Verband wegen der Dopingaffäre die Entscheidung getroffen hatte, dass nur zehn Russen als neutrale Sportler in Tokio starten dürfen, wuchs die Nervosität unter den Athleten. Eine Arbeitsgruppe beim russischen Verband unter der ersten Vizepräsidentin Irina Priwalova musste nun aus den vielen Kandidaten die besten zehn auswählen. Aspekte wie Leistungsstand und Medaillenchancen wurden herangezogen, doch die Auswahl war nicht leicht zu treffen.

Russland | Leichtathlet Sergei Shubenkov
Sergej Shubenkov nach seinem Sieg im 110-Meter-Hürdenlauf bei den russischen Leichtathletik-Meisterschaften 2021Bild: Valery Sharifulin/TASS/dpa/picture alliance

Außer Frage standen die Top-Athleten, die regelmäßig in der "Diamond League" starten, wie die Hochsprung-Weltmeisterin Marija Lassizkene, der gerade vom Dopingverdacht freigesprochene Hürdensprinter Sergej Shubenkov, die Stabhochsprung-Weltmeisterin Anschelika Sidorova und der U23-Hochsprung-Europameister Ilija Iwanjuk. Über die weiteren sechs Kandidaten diskutierten die russischen Sportfunktionäre bis zur letzten Minute.

Es war eine schmerzliche Entscheidung für die, die nicht berücksichtigt wurden. Die Wahl fiel schließlich noch auf den Hochspringer Mikhail Akimenko, die Weitspringerin Daria Klishina, den Zehnkämpfer Ilya Shkurenyov, die Geher Vasili Misinov und Elvira Chasanova sowie auf den Hammerwerfer Valeri Pronkin.

Politikum Medaillenvorgabe

Was für die Leichtathletik gilt, gilt auch für jede andere Olympische Sportart, in der die Russen vertreten sind - es zählt der maximale Erfolg. Schon zu Zeiten der Sowjetunion war der Olympische Medaillenplan von sehr großer Bedeutung. Priwalova, Olympiasiegerin von Sydney im 400-Meter-Hürdenlauf, die jetzt an der Spitze des russischen Leichtathletikverbandes steht, wäre schon zufrieden, wenn die Leichtathleten eine Goldmedaille in Tokio gewinnen würden. Die russischen Sportbosse haben höhere Ziele: Sie wollen, dass die Athleten 40 bis 50 Medaillen sammeln und beim inoffiziellen Länderranking sollte schon ein Platz oben auf dem Podium erobert werden - zusammen mit China und den USA. 

Russland |  All-Russian Athletics Federation Vorsitzende Irina Privalova
Irina Priwalova: Gold über 400-Meter-Hürden in Sydney, jetzt an der Spitze des russischen LeichtathletikverbandesBild: Valery Sharifulin/TASS /imago images

In der Bevölkerung denken nur wenige konkret an Olympische Medaillen. Für die meisten Russen ist der Dopingskandal kein Thema mehr. Sie sind müde von der Corona-Pandemie und beschäftigen sich mit ihren Alltagsproblemen. Trotzdem ist das Interesse an Olympia da. "Ich werde mir die Spiele auf jeden Fall anschauen. Es ist natürlich schade, dass die russischen Athleten unter neutralem Status in Tokio antreten. Sie haben mehr Respekt verdient", meint die Rentnerin Natalia.

Wladimir, ein Innendesigner,  ist überzeugt, dass die Doping-Sanktionen gegen den russischen Sport nicht berechtigt sind: "Ich weiß, dass es bei den russischen Athleten defacto den Einsatz von Doping gab. Aber ich bin sicher, dass die Sportler aus anderen Ländern auch nicht sauber sind. Alles hat mit Politik zu tun."

Dennoch wird auch er die Olympischen Wettbewerbe im staatlichen Fernsehen verfolgen und seinen Landsleuten, ob nun im neutralen Outfit oder nicht, die Daumen drücken. Das Auftreten der russischen Starterinnen und Starter und vor allem deren Erfolge werden unter strenger Beobachtung der Kontrolleure stehen. Der Dopingskandal in Russland zeigt nun seine Konsequenzen.