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Russland: Haft für Historiker Jurij Dmitrijew

Markian Ostaptschuk
23. Juli 2020

In einem umstrittenen Verfahren wurde der bekannte russische Historiker Jurij Dmitrijew zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Beobachter sind überzeugt, Grund dafür sind seine Nachforschungen zu Verbrechen der Stalin-Ära.

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Russland - Historiker Yuri Dmitriyev
Mehrere bekannte Intellektuelle haben sich für den russischen Historiker Jurij Dmitrijew eingesetztBild: picture-alliance/TASS/I. Podgorny

Das Urteil ist milder ausgefallen als erwartet. Das Stadtgericht von Petrosawodsk im Norden der Russischen Föderation hat den Historiker Jurij Dmitrijew wegen sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das teilte sein Anwalt Viktor Anufrijew gegenüber Journalisten mit. Er sagte, Dmitrijew habe auf das Urteil ruhig reagiert. "Er ist ein starker Mann, er weiß, dass er nicht schuldig ist", so Anufrijew. Die Staatsanwaltschaft hatte für den 64-jährigen Leiter der Abteilung des Menschenrechtszentrums "Memorial" in der Teilrepublik Karelien sogar 15 Jahre Lagerhaft gefordert. Dem Anwalt zufolge könnte Dmitrijew Mitte September freikommen, da er von Vorwürfen in vorherigen Verfahren freigesprochen wurde.

Womit befasste sich der Historiker?

"Memorial" stellte noch während des Prozesses klar, niemand glaube, dass die Anschuldigungen wahr sind. Vielmehr solle Dmitrijew als Andersdenkender und politisch Verfolgter mit erfundenen Vorwürfen zum Schweigen gebracht werden.

Dmitrijew ist als Autor und Herausgeber von Büchern bekannt, die an Opfer der politischen Repressionen unter dem kommunistischen Sowjetregime in Karelien erinnern. Bei Forschungen zu Hinrichtungen unter dem Diktator Stalin entdeckte er in Sandarmoch ein Massengrab aus der Zeit des Großen Terrors von 1937 und 1938. Er dokumentierte die Namen Tausender Menschen, die dort erschossen wurden, und richtete eine Gedenkstätte ein.

Angehörige und Kollegen des Historikers sind überzeugt, dass Dmitrijew wegen seiner Tätigkeit verfolgt wurde. Denn mit seinem Gedenken geriet er jenen Kräften in die Quere, die Stalin verehren. Und sie werfen Dmitrijew vor, er wolle Russlands Geschichte mit Füßen treten. Dmitrijew sagte dazu während des Prozesses: "Wir müssen an jene Menschen erinnern, die durch den Willen der Anführer unseres Staates starben." Dies sei seine patriotische Pflicht, betonte er.

Vorwürfe der Ermittlungsbehörden

Das aktuelle Verfahren ist bereits das zweite gegen Dmitrijew wegen Pädophilie. 2016 sicherten Ermittler in Dmitrijews Wohnung Dateien von seinem Computer. Dort gab es auch Bilder der nackten Adoptivtochter, die von Gutachtern aber nicht als Kinderpornografie eingestuft wurden. Auch ein psychisches Gutachten bezeugte Dmitrijew keine pädophilen Neigungen. Die Nacktfotos dienten ihm zufolge dazu, gegenüber den Behörden die Entwicklung des unterernährten Kindes zu dokumentieren.

Dennoch wurde Dmitrijew wegen Kinderpornografie angeklagt. Später wurde er von diesem Vorwurf freigesprochen, aber wegen Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. In seinem Haus waren Teile einer historischen Waffe gefunden worden, die aus Ausgrabungen stammen. 2018 kassierte das Oberste Gericht Kareliens jenen Freispruch, weshalb es zur erneuten Festnahme samt Prozess wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter kam.

Offener Brief zur Unterstützung von Dmitrijew

Mitte Juni, kurz vor der Wiederaufnahme des Gerichtsprozesses, wandten sich die Literaturnobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller sowie der Goncourt-Preisträger Jonathan Littell mit einem offenen Brief an die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic.

Mahnmal für Opfer der Stalin-Ära in Karelien
Dank Jurij Dmitrijew wurde in Sandarmoch ein Massengrab aus der Zeit des Großen Terrors von 1937 und 1938 entdeckt Bild: picture-alliance/dpa/L. Martti Kainulainen

Darin betonen sie, das Strafverfahren ziele gegen die Erinnerung an die Repressionen und den Historiker Dmitrijew selbst, der unbestreitbare Beweise für die dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte zum Vorschein gebracht und auf eine schleichende Rehabilitierung des Stalinismus im heutigen Russland aufmerksam gemacht habe. Die russischen Behörden würden versuchen, die Geschichte von Sandarmoch umzuschreiben, den Historiker zu verleumden und grundlos eines Verbrechens zu beschuldigen.

Alexijewitsch, Müller und Littell erinnern daran, dass sich für die Befreiung Dmitrijews einfache Bürger, aber auch europäische Kulturschaffende und Wissenschaftler einsetzen. So hätten im vergangenen Herbst 20 Botschafter europäischer Länder in der Russischen Föderation die Gedenkstätte in Sandarmoch besucht, "um sowohl den Opfern des Terrors als auch der Leistung des Bürgers Jurij Dmitrijew Tribut zu zollen".