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Politik

Russland: Operieren am Existenzminimum

Tatiana Kondratenko mo
28. November 2019

Zwölf Stunden arbeiten und nachts Taxi fahren, um die Familie zu ernähren: Alltag für viele Ärzte in Russland. Gerade an staatlichen Krankenhäusern ist die Situation für Mediziner oft sehr prekär. Und der Unmut wächst.

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Russland Mediziner Alexey Potapov
Bild: privat

In Nostalgie schwelgt der 45-jährige Alexej Potapow nicht, wenn er an seine Zeit als Mediziner zurückdenkt. 14 Jahre lang war er als Chirurg in verschiedenen staatlichen Krankenhäusern tätig. Meist hatte er eine 60-Stunden-Woche. Anfang der 2000er Jahre ging er in den hohen Norden Russlands, wo die Ärztegehälter höher sind - 60.000 Rubel (rund 850 Euro) pro Monat, für russische Verhältnisse ganz gut. Sieben Jahre später kehrte Alexej in seine Heimat, die Region Pensa, zurück. Bei gleicher Arbeitsbelastung erhielt er dort aber nur noch die Hälfte. Auch seine Frau arbeitete als Ärztin im selben Krankenhaus. Doch das Geld reichte hinten und vorne nicht: "Wir mussten buchstäblich ums Überleben kämpfen", so Alexej.

Doch dann erinnerte sich der Chirurg an sein Hobby: das Programmieren. Parallel zu seinem Job in Krankenhaus absolvierte er ein Fernstudium als Programmierer, das er 2014 abschloss. Seit fünf Jahren arbeitet er nun als Entwickler für ein großes IT-Unternehmen in Moskau - für das dreifache Gehalt. Auch Alexejs Frau gab ihren Beruf als Medizinerin auf.

Russland Mediziner Alexey Potapov
Alexej Potapow - vom Mediziner zum IT-EntwicklerBild: privat

Tagsüber im OP, nachts im Taxi

Viele ehemalige Kollegen von Alexej sind in Privatkliniken gewechselt oder arbeiten mittlerweile für Pharmakonzerne. "Diejenigen, die in den staatlichen Krankenhäusern geblieben sind, fahren Taxi, um sich was dazuzuverdienen", sagt er.

Rund zehn Prozent der Fachärzte kehren jedes Jahr dem russischen Gesundheitswesen den Rücken. Dadurch ist ein immenser Fachkräftemangel entstanden. Russlandweit fehlen rund 25.000 Mediziner. Beispielsweise gibt es im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen im hohen Norden Russlands 43.000 Einwohner, aber nur noch einen Onkologen. Russland gibt heute 3,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. In Deutschland sind es 11,5 Prozent, in Belgien 10,5 und in den Niederlanden 9,9 Prozent.

Nicht nur erfahrene Ärzte, auch junge Mediziner verlassen die staatlichen Krankenhäuser. Jelena und Jewgenij Tumasow (Namen v.d. Red. geändert) haben vor zwei Jahren ihr Studium in Sankt Petersburg abgeschlossen. Eigentlich wollte die junge Frau Sportärztin werden. Noch während ihres Studiums jobbte sie als Krankenschwester in einer städtischen Klinik.

"Als Trainerin im Fitnessstudio habe ich mehr verdient", erinnert sich Jelena. Zudem seien die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus hart gewesen: Pausen gab es kaum, Überstunden dafür täglich. Jelena entschloss sich daher zu einer Fortbildung als Stylistin. Nun macht sie ihre ersten Schritte in einer Branche, die nichts mit Medizin zu tun hat. Auch Ehemann Jewgenij kehrte nach erfolgreicher Ausbildung zum Chirurgen der Medizin den Rücken - nach insgesamt 13 Jahren. 

Russland Medizinerin Elena Tumasova
Jelena arbeitet inzwischen als StylistinBild: privat

Gesundheitssystem in der Krise

Vor allem abseits der großen Städte mehren sich die Meldungen, wonach Ärzte streiken, kündigen oder Petitionen schreiben. Im Frühjahr protestierten Ärzte aus drei regionalen Krankenhäusern in der Region Nowgorod. Im August streikten alle Unfallärzte des Krankenhauses der Region Wladimir und in Nischni Tagil verließen alle Chirurgen die städtische Klinik. "Die Menschen sind seit Jahren überarbeitet. Bei ihnen brennen die Sicherungen durch", sagt Andrej Konowal von der Mediziner-Gewerkschaft "Dejstwije".

Dabei sollten bis 2018 die Arztgehälter in staatlichen Einrichtungen verdoppelt und in einigen Regionen sogar verdreifacht werden. Das hatte Präsident Putin bereits 2012 in mehreren präsidentiellen Dekreten zugesichert. Geschehen ist jedoch nichts. Offiziellen russischen Statistiken zufolge verdient ein Arzt in Russland im Durchschnitt 79.000 Rubel (ca. 1120 Euro) pro Monat. Doch viele Ärzte sehen diese Angaben kritisch. Denn in die Berechnung der russischen Statistikbehörde fließen auch die Gehälter der Krankenhausmanager ein, die um ein Vielfaches höher sind als die der normalen Ärzte. Laut einer Umfrage, die von Mediziner-Gewerkschaften durchgeführt wurde, liegt das tatsächliche durchschnittliche Gehalt eines Arztes bei 42.000 Rubel (rund 600 Euro). Selbst Kurierfahrer verdienen in Russland mehr.

Krankenschwester wird zu Reinigungskraft

Um die durch Präsident Putin vorgegebenen Ziele zu erreichen, wurden die Missstände sogar noch verschärft. So würden Mediziner einfach entlassen, Krankenschwestern zu Reinigungspersonal deklariert oder Ärzte in niedrigere Tarifgruppen versetzt. In vielen Fällen sei deren Arbeitszeit, so die Mediziner-Gewerkschaft, einfach auf dem Papier reduziert worden. So würden die niedrigen Gehälter der Ärzte mit Putins-Dekreten in Einklang gebracht und "legalisiert". In Wirklichkeit würden jedoch massenweise Überstunden geleistet.

Larissa Popowitsch, Gesundheitsexpertin von der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau, meint, dass es in einer Reihe von Regionen dennoch gelungen sei, ein funktionierendes System mit normalen Gehältern und Arbeitsbedingungen aufzubauen - dank tatkräftiger Gouverneure. Ihr zufolge fehlt Russland eine langfristige Strategie für das Gesundheitswesen. "Das Ministerium agiert wie eine Feuerwehr: Probleme werden lokal angegangen, statt systematische Lösungen zu finden", so Popowitsch.

Trotzdem drängen nach wie vor viele junge Russen in die medizinischen Hochschulen des Landes. Jährlich machen bis zu 35.000 Fachkräfte ihren Abschluss. Doch sie suchen nicht nach Jobs in einem staatlichen Krankenhaus, sondern gehen lieber in Privatkliniken und Pharmafirmen - oder gleich ins Ausland.