Wehrdienstgegner aus Russland fürchten Abschiebung in Krieg
12. November 2024Deutschland schiebt immer mehr russische Staatsbürger in ihr Heimatland ab, obwohl es keinen einzigen Direktflug zwischen den beiden Ländern gibt. Die Anzahl der Abschiebungen könnte weiter steigen, falls Gerichte und Behörden ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Aktenzeichen OVG 12 B 17/23) als Präzedenzfall betrachten. Das Gericht hatte festgestellt, dass junge russische Soldaten, die zum Grundwehrdienst eingezogen werden, praktisch kein Risiko eingehen, in den Ukraine-Krieg geschickt zu werden. Sie würden lediglich zum Grenzschutz entlang der Grenze zur Ukraine und auf der Krim eingesetzt. Entsprechend gebe es keinen Grund, den russischen Männern Asyl in Deutschland zu gewähren, denn eine Einberufung zum Wehrdienst allein gelte nicht als Asylgrund.
Das Urteil erging bereits Ende August, aber Medienvertreter haben davon erst jetzt erfahren. Die Recherchen zu diesem Fall sind eine Koproduktion von Deutsche Welle und tagesschau.de.
Wie alles begann: Ein Tschetschene klagt gegen seine Abschiebung
Was mit einer Einzelfallklage gegen eine Abschiebung nach Russland begann, endete mit einem Grundsatzurteil. Es könnte die Pläne von hunderten russischer Wehrdienstverweigerer durchkreuzen, Asyl in Deutschland zu bekommen. Dabei handelte es sich im konkreten Fall weder um einen Kriegsdienstverweigerer noch um einen Deserteur. Der Kläger war ein 22 Jahre alter russischer Staatsbürger tschetschenischer Herkunft.
Der junge Mann kam im Alter von zehn Jahren nach Deutschland, seine Familie erhielt kein Asyl, wurde aber geduldet. Der junge Mann wurde kriminell und galt der Polizei bald als Intensivtäter. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Doch auch während der Haft verprügelte er einen Mitgefangenen und wurde zusätzlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Frühjahr 2023 schrieb ihm die Ausländerbehörde, er müsse das Land verlassen.
Doch der Tschetschene klagte dagegen. Eines seiner zentralen Argumente war, dass er bei seiner Rückkehr nach Russland in die Armee eingezogen und in den Ukraine-Krieg geschickt werden würde.
Das Gericht wies die Klage ab. Die Urteilsbegründung ist 16 Seiten lang. Der Teil über die Rekrutierung in Russland stützt sich auf dutzende Quellen, darunter Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und auch auf Publikationen in europäischen und russischen Medien. Dabei wurde das russische System der Personalgewinnung für die Streitkräfte ebenso analysiert wie die Risiken für Wehrpflichtige, in einen Fronteinsatz geschickt zu werden.
Die Richter waren der Meinung, dass rekrutierte Wehrpflichtige kaum in die Ukraine geschickt werden. Die einzige Ausnahme sind die sogenannten "Freiwilligenbataillone" aus Tschetschenien, doch der abzuschiebende Kläger könne sich frei aussuchen, wo er sich in Russland niederlässt, so das Gericht.
Weitreichende Folgen
Es ist eine Entscheidung mit Präzedenzcharakter, meint Rechtsanwalt Mersad Smajic, der den tschetschenischen Kläger vertritt. Denn die Begründung des Gerichts weise über den konkreten Fall hinaus. In einem weiteren ähnlichen Fall habe das Verwaltungsgericht Halle in Sachsen-Anhalt bereits "vollumfänglich Bezug auf das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg genommen", so der Anwalt.
Das bestätigt auch Rudi Friedrich, Geschäftsführer des im hessischen Offenbach ansässigen Vereins "Connection", der Kriegsdienstverweigerer unterstützt: "Das Oberverwaltungsgericht gibt eine Gesetzesinterpretation vor und die anderen Gerichte müssen sich erstmal daran halten".
Kritik aus der Politik
Scharfe Kritik an dieser Entscheidung äußert Robin Wagener, der Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südlichen Kaukasus, der Republik Moldau und Zentralasien: "Es gibt unzählige Belege für den Einsatz von schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen in Putins völkerrechtswidrigem Angriffskrieg. Immer wieder gibt es Berichte, dass russische Soldaten unter Androhung von Tötung oder Folter durch ihre Vorgesetzten zu Einsätzen gegen die Ukraine gezwungen werden".
Russische Menschenrechtler behaupten, dies sei nicht die erste Entscheidung eines deutschen Gerichts dieser Art, es gebe immer wieder Fälle, bei denen die Urteile auf veralteten oder ungenauen Informationen basierten. Artjom Klyga, ein Anwalt der "Bewegung Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen" - einer NGO, die Russen hilft, den Militärdienst zu umgehen - spricht von einem guten Dutzend solcher Fälle.
Die Annahme, dass die russischen Rekruten nicht in den Krieg geschickt werden, sei spätestens seit der ukrainischen Invasion in das Gebiet Kursk im August 2024 obsolet, so Klyga. Seitdem seien junge Rekruten aus anderen russischen Regionen dorthin geschickt worden, um gegen die ukrainischen Streitkräfte zu kämpfen.
"Ich würde nicht sagen, dass die deutschen Gerichte die Positionen der russischen Regierung übernehmen. Ich deute es als Unwillen, die Informationen von Menschenrechtlern und den Vereinten Nationen zu berücksichtigen. Es ist doch einfacher, von den staatlichen russischen Medien abzuschreiben, die behaupten, es gebe keine Mobilmachung", so Klyga.
Immer mehr Abschiebungen nach Russland
In den ersten acht Monaten des Jahres 2024 wurden 32 russische Staatsbürger aus Deutschland abgeschoben. Das sind viermal mehr als im gesamten Jahr 2023. Wie aus Statistiken des Bundesinnenministeriums hervorgeht, die tagesschau.de und dw.com vorliegen, werden die Russen über Drittländer abgeschoben. Dabei begleiten Mitarbeiter der Bundespolizei sie bis zum Umsteigeort und übergeben sie dann an den Sicherheitsdienst der Fluggesellschaft. In den Unterlagen des Ministeriums werden keine Flughäfen genannt, über die Abschiebungen nach Russland abgewickelt werden. Mutmaßlich könnten dies Belgrad oder Istanbul sein, denn über diese Flughäfen sind Transferflüge mit einer Airline möglich.
Asylanträge russischer Männer: Ein Prozent Erfolgsquote
Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 bis August 2024 haben 5831 russische Männer im Alter zwischen 18 und 45 Jahren Asyl in Deutschland beantragt. Nur 57 von ihnen waren erfolgreich, weitere 154 Antragsteller erhielten bislang einen temporären Aufenthaltsstatus.
Knapp die Hälfte der Anträge wurden entweder zurückgezogen oder aus formalen Gründen abgelehnt, unter anderem wegen Nicht-Einhaltung des Dublin-Abkommens. Dieses besagt im Grundsatz, dass Asylanträge nur in dem EU-Staat gestellt werden dürfen, der von den Schutzsuchenden als erstes betreten wurde.
Dagegen hatte das Bundesinnenministerium russischen Wehrdienstverweigerern noch im September 2022 Schutz versprochen, nachdem in Russland eine Teilmobilmachung ausgerufen worden war.
Der 22 Jahre alte Tschetschene, dessen Klage zum Auslöser der weitreichenden Entscheidung des OVG wurde, ist immer noch in Deutschland. Das Gericht lässt keine Revision gegen das Urteil zu - dagegen hat nun der Anwalt des Tschetschenen eine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt.