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Politik

"Russlanddeutsche sind nicht die AfD"

16. September 2017

In einem offenen Brief fordern 15 Organisationen, die Spätaussiedler nicht pauschal als fremdenfeindliche Putin-Anhänger abzustempeln. DW sprach mit einem der Unterzeichner.

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Deutschland Russisches Geschäft in Ludwigsburg
Russisches Geschäft in LudwigsburgBild: picture-alliance/dpa/C. Schmidt

"Wir sind nicht die AfD, nicht die CDU, nicht die fünfte Kolonne Putins! Wir sind genau so individuell, wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes!". Dies ist die Kernaussage eines offenen Briefes, den Vertreter von 15 Organisationen der Russlanddeutschen "an Medien und Politik" adressiert haben. Darin beschweren sie sich über die "sehr einseitige Darstellung der Deutschen aus Russland als eine besonders motivierte Wählergruppe" der rechtspopulistischen "Alternative für Deutschland" (AfD). Die DW hat bei einem der Unterzeichner, dem Vorsitzenden des Vereins "Forum Russlanddeutsche Essen", Igor Wenzel, nachgehakt.

Deutsche Welle: Sind Sie der Meinung, dass die deutschen Medien in ihrer Berichterstattung über die große Popularität der AfD unter Russlanddeutschen einfach nur übertreiben - oder existiert dieses Phänomen gar nicht?

Igor Wenzel: Wir sehen auf jeden Fall eine ziemlich einseitige Berichterstattung. Das ist unakzeptabel. Man kann doch nicht Menschen nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe als Anhänger von Populisten oder von Putin darstellen!

Igor Wenzel, Forum der Russlanddeutschen in Essen
Igor Wenzel - Vorsitzender des "Forum Russlanddeutsche Essen"Bild: privat

Aber Sie werden doch nicht leugnen können, dass in den alten Bundesländern ausgerechnet dort, wo besonders viele Russlanddeutsche zusammenleben, die AfD in letzter Zeit bei Landtagswahlen 20, 30 und sogar 40 Prozent bekommen hat?   

Ich kenne Berichte, wonach es in einzelnen Stadtteilen einzelner Städte so sein soll. Ich weiß aber auch, dass bei uns in Essen oder in Bochum oder im Kreis Lippe, wo sehr viele Russlanddeutsche leben, die AfD nicht annähernd auf solche Zustimmungsraten kommt. Es muss also andere Gründe für die erwähnten Wahlergebnisse geben. In den Medien wird ständig Pforzheim-Heidach als Beispiel angeführt. Ich glaube, das hat viel mit Waldemar Birkle zu tun.

Dem örtlichen Bundestagskandidaten der AfD in Pforzheim...

…der die Leute dort anscheinend mitreißen konnte. In anderen Städten gibt es solch aktive Personen nicht. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass es sich um klassische Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus handelt. Als die großen Aussiedlerwellen kamen, haben viele Russlanddeutsche dort bezahlbaren oder zur Verfügung gestellten Wohnraum gefunden. Die, die es sich leisten konnten, sind mit der Zeit weggezogen. Geblieben sind oftmals die Älteren, die Geringqualifizierten.         

Das Problem liegt also in diesen Ghettos, wo schnell eine Massendynamik entstehen kann? Und wo die AfD gezielt in russischer Sprache Wahlkampf führt?

Ich vermeide das Wort Ghetto. Aber wir haben immer eine Überkonzentration einer bestimmten Gruppe von Zuwanderern kritisiert. Manche sehen darin zwar Vorteile: Man kann diese Gruppe dann besser ansprechen. Ich finde, die Nachteile überwiegen. In solchen Siedlungen ist die Gefahr größer, dass radikale Kräfte Unzufriedenheit und Ängste schüren.

Was Flyer in russischer Sprache angeht - die haben auch andere Parteien. An sich ist das nicht schlecht. Schlecht ist, wenn mit Gefühlen und Emotionen der Menschen gespielt wird, wie die AfD das tut. Ja, sie bemüht sich um die Stimmen der Russlanddeutschen. Aber das heißt nicht, dass sie überall Zuspruch findet.

Eine große Rolle spielt wohl auch das staatliche russische Fernsehen. Das, so scheint es, von sehr vielen Russlanddeutschen konsumiert wird.

Wer schaut russisches Fernsehen? Meine Kinder gar nicht, sie sprechen auch nicht Russisch. Die jungen Menschen, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind, tun das äußerst selten, wenn überhaupt. Es sind in erster Linie die Älteren. Teilweise auch die mittlere Generation. Allerdings schauen sie Nachrichten sowohl im russischen als auch im deutschen Fernsehen - und sie vergleichen. Ich höre oft: "Wir vertrauen den russischen Medien nicht, aber die deutschen sind auch nicht besser."

Damit wäre ein Hauptziel der russischen Propaganda wohl erreicht: Misstrauen in die Medien und generell in die Institutionen westlicher Demokratien zu säen, was wiederum den Nährboden für Populisten schafft.

Kampf um die Russlanddeutschen

Aber man kann ihnen diesen Nährboden auch entziehen! Das klappt dort, wo Institutionen und etablierte Parteien gut mit den Selbstorganisationen der Russlanddeutschen zusammenarbeiten, dort, wo diese Parteien politisch engagierte Russlanddeutsche unterstützen und fördern. Mir wird immer wieder gesagt: "Ich bin zwar in einer Partei, habe aber kaum Chancen weiterzukommen."

Bei der AfD stammen sechs Bundestagskandidaten aus der früheren Sowjetunion, fünf von ihnen sind Russlanddeutsche. Fühlen sich denn die Aussiedler generell benachteiligt, speziell auch gegenüber Flüchtlingen?

Es gibt die These, uns gegenüber habe es keine Willkommenskultur gegeben, uns habe keiner unterstützt. So etwas zu behaupten ist einfach unverschämt! Auch den Russlanddeutschen wurde viel geholfen. Der Staat, die Sozialverbände, die Kirchen, die Sportvereine haben das gemacht. Und wir bekamen nicht etwa Asyl, wie heute die geflüchteten Menschen, sondern sofort die Staatsangehörigkeit, also ganz andere Rechte.

Ist der offene Brief der Organisationen der Russlanddeutschen eventuell mit der Sorge zu erklären, sie könnten staatliche oder private Zuschüsse verlieren, wenn die Nähe vieler Spätaussiedler zur AfD offensichtlich wird?

Nein, wir fordern einfach mehr Sachlichkeit und Fairness in der Berichterstattung. Es wäre fatal, wenn man in jedem Russlanddeutschen einen fremdenfeindlichen AfD-Wähler oder Putin-Anhänger sehen würde. In den Stadtteilen, wo Spätaussiedler Tür an Tür mit vor Krieg und Verfolgung geflüchteten Menschen leben, herrscht Frieden. Es gibt kaum nennenswerte Konflikte, viele waren und sind in der Flüchtlingshilfe aktiv, auch in unserem Verein. Wir arbeiten ehrenamtlich. Es gibt Zuschüsse für Projekte, die letztendlich der Allgemeinheit zugutekommen. Aber die speziellen Integrationsprogramme für Spätaussiedler sind sehr stark zurückgefahren worden. In vielen Orten zu früh, wie ich meine, denn der Prozess der Integration von Russlanddeutschen ist noch nicht abgeschlossen.

Das Gespräch führte Andrey Gurkov