Russlands Kriegsverbrechen im Visier der deutschen Justiz
26. Juni 2023Es geschah wenige Wochen nach Beginn der Invasion, als russische Truppen ein Dorf in der Nähe von Kiew besetzten. Nach wiederholten Einschüchterungen drangen zwei russische Soldaten in das Wohnhaus einer ukrainischen Familie ein.
Dort erschossen sie den Ehemann und vergewaltigten die Ehefrau mehrfach. Es gelang ihr und ihrem Sohn, zu fliehen - nach Deutschland. Ob ihr Haus in der Ukraine noch steht oder von russischen Streitkräften zerstört wurde, wissen sie nicht.
Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe
Seit Anfang des Ukraine-Kriegs häufen sich Berichte über sexualisierte Gewalt gegen ukrainische Zivilisten - Frauen, Kinder und auch Männer - durch die russische Armee. Bis Januar 2023 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen in 155 Fällen aufgenommen.
Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, nannte diese Zahlen in Kiew die "Spitze des Eisbergs" bei einem Verbrechen, das häufig nicht gemeldet wird.
Der oben geschilderte Fall ist exemplarisch - und liegt nun in den Händen der deutschen Justiz.
Deutsche und ukrainische Anwälte reichen gemeinsam Klage ein
Die Anwälte der Menschenrechtsorganisation ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) haben zusammen mit ihrer ukrainischen Partnerorganisation ULAG (Ukrainian Legal Advisory Group) Strafanzeige bei der deutschen Generalbundesanwaltschaft erstattet. Damit wollen sie vier Mitglieder des russischen Militärs, darunter zwei hochrangige Kommandeure, zur Rechenschaft ziehen. Gegen einen der Soldaten hatten die ukrainischen Behörden bereits ein Gerichtsverfahren in Abwesenheit eröffnet.
Warum schaltet sich gerade Deutschland ein, wo schon in der Ukraine ermittelt wird?
"Das ist eine berechtigte Frage", sagt Andreas Schüller vom ECCHR, der die Anzeigen mitträgt. Er erklärt, dass es Lücken im ukrainischen Recht gibt. Erstens stehe dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht unter Strafe. Dazu kenne das ukrainische Recht keine Vorgesetztenverantwortlichkeit. "Das bedeutet, dass Vorgesetzte für Völkerstraftaten eines Untergebenen nicht verantwortlich gemacht werden, auch wenn sie von den Taten Kenntnis hatten oder haben müssen und sie dennoch nicht verhindert haben", so Schüller im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Eine "Grauzone" der Rechenschaft
Die ukrainische Justiz könnte also gegen die zwei Soldaten ermitteln, denen vorgeworfen wird, gemordet und vergewaltigt zu haben. Es werde aber schwierig werden, ihre Befehlshaber vor Gericht zu stellen. Der internationale Strafgerichtshof, der auch in der Ukraine ermittelt, dürfte sich wiederum auf einige konkrete beispielhafte Fälle konzentrieren.
Kürzlich wurde auch Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und ein Mitglied seines Kabinetts erlassen, denen die Verschleppung von ukrainischen Kindern aus russisch besetzten Gebieten vorgeworfen wird.
Zwischen den einfachen Soldaten und den Hauptverantwortlichen gibt es also eine "Grauzone" für die mittel- bis hochrangigen mutmaßlichen Täter. Und gerade dort sind Staatsanwaltschaften von Drittstaaten gefragt. "Sie sollten Haftbefehle erwirken", sagt Schüller, "so dass den Personen, wenn man ihrer habhaft wird, potenziell in Deutschland oder einem anderen Drittstaat der Prozess gemacht werden kann."
Kriegsverbrechen vor deutschen Gerichten
Deutschland ist mittlerweile ein Vorreiter im internationalen Strafrecht, meint Alexander Schwarz, Experte für Völkerstrafrecht bei Amnesty International. Schon bei den Prozessen gegen Baschar al-Assads Regime in Syrien und bei den Urteilen im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Jesiden hat Deutschland schwere Verbrechen aufgearbeitet, die der Sache nach eigentlich vor ein internationalen Gericht gehören. Im Fall der Ukraine hat die deutschen Justiz sogar schon während eines Konfliktes parallel ermittelt.
"Das ist ein großer Fortschritt. Wir sagen oft, die Zukunft von Völkerstrafrecht liegt vor nationalen Gerichten," sagt Schwarz. "Es gibt mittlerweile Staaten wie Deutschland, die über so effiziente Strafverfolgungs-Mechanismen verfügen, dass sie fast effizienter sind als internationale Strafgerichte." Also landet dieser Fall bei einem deutschen Gericht.
Grundlage für künftige Prozesse
Es gehört für die Betroffenen sicher viel Mut dazu, sich den traumatischen Erinnerungen nochmals vor Gericht zu stellen. Gerade in Deutschland, also in einem fremden Land. Die ukrainische Klägerin möchte es trotzdem. Sie und ihre Anwälte hoffen, dass sie einen Präzedenzfall schaffen können. "Es ist uns wichtig, sexualisierte Gewaltvon Anfang an als Thema zu setzen, und damit wird es auch hoffentlich zu einem Ermittlungsfokus der Behörden", sagt Andreas Schüller vom ECCHR. Zu oft sei in der Vergangenheit das Thema außenvor gelassen worden.
Wird die Überlebende eines Tages ihre Peiniger vor Gericht sehen? Es ist unwahrscheinlich, solange diese sich in Russland aufhalten. Zum internationalen Strafrecht gehört eben auch Geduld, denn die Verbrechen verjähren nicht. "Man weiß nie, wie sich die Welt verändert und ob die Täter mal reisen", sagt Schüller. "Wir denken da langfristig und legen jetzt schon mal eine Grundlage."