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Russisches Gericht löst Menschenrechts-NGO Memorial auf

Roman Goncharenko
28. Dezember 2021

Die Menschenrechtsorganisation Memorial gilt als eine der renommiertesten in Russland. Nun wurde sie höchstrichterlich verboten. Memorial weist die Vorwürfe zurück und sieht sich als Opfer politischer Verfolgung.

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Moskau | Gerichtsgebäude Memorial Prozess Aktivist
"Rein politische Entscheidung": Memorial-Unterstützer vor dem Gerichtsgebäuden in Moskau Bild: Gavriil Grigorov/TASS/dpa/picture alliance

Nach Einschätzung von Russlands Oberstem Gericht verstößt die Menschenrechtsorganisation Memorial International gegen das sogenannte "Ausländische-Agenten"-Gesetz. Richterin Alla Nasarowa gab der Agentur Interfax zufolge einem entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft statt. Wie Memorial mitteilt, wurden mit der Entscheidung auch die regionalen Unterorganisationen von Memorial International verboten. Leiter Jan Ratschinski kündigte an, gegen das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen.

Die international bekannte Organisation setzt sich für politisch Verfolgte ein und klärt über Verbrechen der kommunistischen Gewaltherrschaft auf. Wenn es um Menschenrechte in Russland geht, ist "Memorial" die erste Adresse. Die renommierte Nichtregierungsorganisation erforscht seit über 30 Jahren politische Repressionen in der Sowjetzeit, kümmert sich um die Rehabilitierung der Opfer und prangert politisch motivierte Justiz an. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Sacharow-Preis des EU-Parlaments. 

Bereits seit 2016 unter Beobachtung 

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte der international angesehenen Nichtregierungsorganisation vorgeworfen, mehr als 20 ihrer Veröffentlichungen unter anderem im Internet nicht mit dem Hinweis "ausländischer Agent" gekennzeichnet zu haben, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen sei. Das umstrittene Gesetz zwingt Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, unter anderem dazu, sich auf allen Unterlagen als "ausländische Agenten" zu bezeichnen. Kritiker dieses Gesetzes sprechen von einer staatlichen "Diffamierung". Memorial wies die Vorwürfe zurück; in einer Stellungnahme hieß es, die drohende Schließung sei eine "rein politische Entscheidung".

Russland Moskau-Büro der NGO Memorial
"Ausländischer Agent" steht auf dem Graffiti am Memorial-Büro in Moskau (Archiv)Bild: Getty Images/AFP/Kudryavtsev

Während der mehrtägigen Gerichtsverhandlung betonten Vertreter von Memorial, man habe nach derartigen Beschwerden stets sofort die betroffenen Publikationen mit dem geforderten Hinweis versehen. Auch die verhängten Geldstrafen von umgerechnet insgesamt 54.000 Euro habe man bezahlt. Acht der zehn von der Staatsanwaltschaft in ihrer Klage angeführten Ordnungswidrigkeiten seien zudem verjährt.

Erinnerung an die dunklen Seiten der Stalin-Ära

"Memorial" ist ein Kind der Perestroika, der Öffnungspolitik Michail Gorbatschows in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. 1987 wurde in Moskau eine erste Gruppe gegründet, die sich für das Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen der Stalin-Ära einsetzte - ein Trauma, das jahrzehntelang verschwiegen worden war. Schnell entstand eine landesweite Bewegung mit Vertretungen in vielen Teilrepubliken der damaligen UdSSR. Der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow wurde ihr erster Vorsitzender. Die erste Protestaktion fand im Juli 1989 vor der chinesischen Botschaft statt. Anlass war damals das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. 

"Memorial" sieht seine primäre Aufgabe in der Aufarbeitung der Stalin-Herrschaft, als Millionen Sowjetbürger aus politischen Motiven ermordet wurden oder in Arbeitslagern um ihr Überleben kämpften. Als das bisher bekannteste Mahnmal ließen "Memorial"-Aktivisten Ende Oktober 1990 auf dem Lubjanka-Platz, vor der damaligen Zentrale des berüchtigten Geheimdienstes KGB, den Solowezki-Gedenkstein aufstellten. Auf den Solowezki-Inseln im Norden Russlands entstand Anfang der 1920er Jahre das erste große sowjetische Häftlingslager. Bis heute erinnert der Stein an das stalinistische GULAG-System, ein landesweites Netz von Straf- und Arbeitslagern.

Druck auf diversen Ebenen

"Memorial" war immer unbequem. Die Organisation beschäftigt sich mit den dunkelsten Kapiteln neuer russischer Geschichte. Ihre Mitarbeiter forschen in Archiven über Repressionen, veröffentlichen dazu Bücher und organisieren Ausstellungen oder Gedenkveranstaltungen. So wurden vor wenigen Wochen bei einer Online-Aktion die Namen von Bürgern vorgelesen, die während der Sowjetzeit ohne jegliche Schuld erschossen wurden.  

Russland: Unbarmherzig gegen unliebsame Kritiker

Das Menschenrechtszentrum "Memorial" sorgt oft für mediales Aufsehen durch seinen Einsatz für diejenigen, die es als politische Häftlinge einstuft. Das prominenteste Beispiel ist der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny.

In der Ära Putin steht der Ansatz von "Memorial" dabei zunehmend im Widerspruch zum geschichtspolitischen Kanon in Russland, in dem Stalin noch immer verehrt wird. Die Organisation spürt seit Jahren Druck auf diversen Ebenen. So wurde die "Memorial"-Mitarbeiterin in der Teilrepublik Tschetschenien, Natalia Estemirowa, 2009 entführt und erschossen. Der "Memorial"-Leiter in Karelien, der 65-jährige GULAG-Historiker Juri Dmitrijew, wurde in einem umstrittenen Verfahren zu 13 Jahren Haft verurteilt. Dmitrijew wurde 2021 mit dem Sacharow-Freiheitspreis des norwegischen Helsinki-Komitees ausgezeichnet.

Das von "Memorial" unterstützte Museum "Perm-36", das einzige auf dem erhaltenen Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers, musste in den vergangenen Jahren ums Überleben kämpfen. Im Oktober 2021 versuchten Unbekannte, eine Filmvorführung im Moskauer "Memorial"-Gebäude zu stören. Im Film ging es um eine Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre, die Millionen Menschenleben forderte und Stalins Politik zur Last gelegt wird.   

Wenn westliche Politiker nach Moskau reisen und sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft treffen, sind "Memorial"-Mitarbeiter immer dabei - bislang.

( mit Agenturen)

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